Dienstag, 4. August 2015

Das freiheitliche Menschenbild: Der sich selbstentwickelnde Charakter



In seinem Bestseller „The Lonely Crowd“ (deutsch: „Die einsame Masse“) von 1950 diagnostizierte David Riesman gemeinsam mit seinen Mitarbeitern einen fundamentalen Wandel des amerikanischen Charakters der Nachkriegszeit, weg vom „innengeleiteten“ und hin zum „außengeleiteten“ Charakter. Innengeleitete Menschen orientierten sich an ihrem Gewissen auf der Grundlage verinnerlichtet Normen ihrer Erzieher und Autoritäten. Ihr Charakter funktioniere wie ein Kreiselkompass, so Riesman, und richte sich immer wieder an diesen eigenen Wertmaßstäben aus. Demgegenüber sei der außengeleitete Charakter der korporatistischen Industriegesellschaft, der „Corporation Men“ darauf ausgerichtet, sich an Verhaltensstile der sozialen Umwelt anzupassen und sich ihren Wertmaßstäben zu unterwerfen. Dieser neue Charaktertypus sei hochgradig flexibel und anpassungsbereit, marktorientiert, ständig bemüht, sich positiv zu verkaufen.

Der außengeleitete Charaktertypus, wie David Riesman ihn beschrieb, ist nach wie vor prägend in unserer Gesellschaft. Die allermeisten Menschen sind daran gewöhnt, sich ständig an diversen Märkten zu verkaufen, ihren Marktwert zu bestimmen und andere Menschen ebenso zu manipulieren, wie sie selbst manipuliert werden. Der außengeleitete Typus ist selbstunsicher und eigentlich seelenlos, ohne verlässliche Identität, ständig auf der Suche nach Bindung und Anerkennung, ständig verzweifelt bemüht, geliebt oder wenigstens geschätzt zu werden. Da er sich allein am Zeitgeist und den gerade herrschenden Normen und Qualifikationsanforderungen orientiert, ist er ständig hin und her gerissen wie ein Fähnchen im Wind. Viele der für unsere Zeit so charakteristischen Angststörungen haben ihre Ursache in der Selbstunsicherheit des außengeleiteten Charakters.

Ohne jeden Zweifel ist es nicht der außengeleitete Charaktertypus der Wirtschaftskorporationen und des etatistischen Wohlfahrtsstaates, der Liberalen vorschwebt, wenn sie den „liberalen Menschen“ im Kopf haben und von Persönlichkeitsbildung und Entfaltung menschlicher Potenziale sprechen. Aber es ist auch nicht der traditionsorientierte innengeleitete Charaktertypus des neunzehnten Jahrhunderts mit seiner starren Anbindung an nationale und religiöse Wertmaßstäbe seiner Zeit und Lebenswelt. Immerhin sind wir geneigt, diesen gewissensorientierten Prinzipienmenschen mit ihrem inneren Kreiselkompass gewisse Sympathien entgegenzubringen. Sie hatten Wertmaßstäbe, waren oft knorrige Individualisten, bodenständig verwurzelt und eingebunden.

Der Charaktertypus, der uns Liberalen vorschwebt, ist der sich selbstentwickelnde Charakter, der einem Dirigenten, einem schaffenden Künstler gleich, sich ständig neu formt, entwirft und entfaltet. Dieser Charaktertypus vereint in sich die Offenheit und Flexibilität von Riesmans außengeleitetem Charakter mit der Wertorientierung und Verwurzelung des innengeleiteten Charakters. Der freiheitliche Mensch ist undogmatisch, offen für Neues und veränderbar. Aber ebenso weiß er stets, wer er ist, woher er kommt und wohin er will. Er vermeidet Beliebigkeit, verfügt über Lebenssinn, Ziel und Richtung. Wenn er über Sinn verfügt, hinterfragt er sich aber ständig und ist auf der Suche nach neuem Sinn und neuer Wahrheit. Wenn er ein Ziel verfolgt, so lässt er sich gerne vom Weg abbringen, denn der Weg zu sich selbst ist sein eigentliches Ziel. Wenn er in eine Richtung aufbricht, so rennt er nicht blindlings geradeaus, sondern schaut sich ständig um, verändert seine Richtung und kehrt vielleicht um, wenn er es für richtig befindet. Er ist ein kritischer Individualist. Seine bodenständige Verwurzeltheit und Wertorientierung ermöglicht ihm die weltoffene Exploration und experimentierfreudige Neugier und Suche nach sich selbst und seinen Möglichkeiten.


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