Mittwoch, 5. August 2015

Persönlichkeitsbildung und menschlicher Adel


Karl Jaspers schrieb 1930 in „Die geistige Situation der Zeit“: Die Frage, ob menschliche Würde noch möglich sei, ist identisch mit der Frage, ob noch Adel möglich sei.“ Jaspers verstand unter dem Begriff nicht den Geburtsadel, sondern eine geistig-moralische Elite, die verkörpere, was edel und gut am Menschen sei. „Die Besten im Sinne eines Adels des Menschseins sind nicht schon die Begabten, welche man auslesen könnte, […], nicht schon geniale Menschen, die außergewöhnliche Werke schaffen, sondern unter allen diesen die Menschen, die sie selbst sind, im Unterschied von denen, die in sich nur eine Leere fühlen, keine Sache als die ihre kennen, sich selber fliehen. Es beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel. […] Man möchte die Entwicklung rückgängig machen, die für das Wesen der neueren, aber jetzt vergangenen Zeit gehalten wird, die Entfaltung der Persönlichkeit.“

Jaspers schrieb dies in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, in der Spätphase der Weimarer Republik. Die Fragen, die er stellt, sind allerdings heute so aktuell, wie sie es damals waren. Sie scheinen zeitlos gültig. Wir leben heute in einer Massengesellschaft, in der Gleichheit über Freiheit dominiert. Es zählt die Mehrheitsentscheidung, die Quote, nicht die Entscheidung für Qualität. Das Herausragende, die Spitzenleistung, wird kritisch beargwöhnt. Das Individuelle, Originelle ist vielen suspekt. Identifikationsobjekte sind Marken: Das Lacoste-Shirt und der Mercedesstern. Nicht die Genialität eines forschenden Wissenschaftlers. Die Kultur der Massengesellschaft ist eine Kultur des Mittelmaßes, bestenfalls. Oft genug dominiert das menschenunwürdig Banale.

Unsere demokratischen westlichen Gesellschaften tun sich schwer mit Eliten. Bestenfalls werden noch Leistungseliten akzeptiert, deren Erfolg sich quantitativ bemessen lässt. Aber wie steht es mit dem Adel im Sinne Karl Jaspers? Schätzen wir Menschen noch für das Edle ihres Denkens und Empfindens, für das Gute Ihres Tuns? Ist die Entfaltung der Persönlichkeit noch eine Leitkategorie in Bildung und Erziehung in unseren Schulen – oder doch längst die bloße Funktionalität des „Wertvoll ist, was Geldwert schafft“?

Für Karl Jaspers waren die Besten „im Sinne des Adels des Menschen“ jene, „die sie selbst sind“. Dies war weniger eine Leistungselite, als eine Bewusstseinselite, eine Entfaltungselite, eine Freiheitselite und vor allem eine Verantwortungselite.

Wie stehen freiheitliche Humanisten zum Konzept der Elite? Vertreten wir eine Zielrichtung der Persönlichkeitsbildung? Haben wir eine Vorstellung davon, was eine gute, menschliche Entwicklung ausmacht? Welche Rolle spielt die Entfaltung unserer Anlagen und Möglichkeiten? Das Ausleben menschlicher Vielfalt? Die individuelle Eigentlichkeit? Gibt es für Liberale und für freiheitliche Humanisten einen Begriff des menschlichen Adels im Sinne Karl Jaspers?

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