Die Furcht vor der Freiheit
Die Auflösung der vor-individuellen Gesellschaft und die Abschaffung
des Obrigkeitsstaates haben den Menschen ein Ausmaß an Freiheit
beschert, das jahrhundertelang völlig unvorstellbar schien und die
optimistischsten Erwartungen übertroffen hat. Mit dem Sieg über den
Nationalsozialismus und der unblutigen Revolution gegen das SED-Regime
wurden zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden und die Freiheit
erkämpft.
Doch die Menschen tun sich schwer mit der erkämpften Freiheit. Das
freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die zunehmenden
Globalisierungsprozesse haben zu massiven Unsicherheitsgefühlen,
Bindungsverlusten und Orientierungsproblemen geführt, die neue Ängste
heraufbeschwören und die Menschen zurücktreiben in scheinbar überwundene
Muster kollektiver Zwangssysteme, in Konformismus, Destruktivität und
sie sich neuen Autoritäten unterwerfen lässt.
Der Psychologe und Sozialphilosoph Erich Fromm legte 1941 eine
sozialpsychologische Studie mit dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“
vor, in der er das Hinabgleiten in das diktatorische Unrechtsregime als
eine Folge von Fluchtbewegungen analysierte, die aus zunehmender
Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst resultierten. Die
Freiheit habe dem Menschen zwar Unabhängigkeit und Rationalität
gebracht, aber auch zu massiven Überforderungen geführt. Der Mensch habe
es noch nicht vermocht, sein individuelles Selbst zu verwirklichen und
seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum
Ausdruck zu bringen. Fromm gelangte somit zu einem doppelten
Freiheitsbegriff: Freiheit von Unterdrückung müsse nicht zwangsläufig
mit einer Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben einhergehen, sondern
löse unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen antiliberale
Fluchtmechanismen aus.
Folgen der „Furcht vor der Freiheit“ können wir in unserer heutigen
Gesellschaft allgegenwärtig studieren. Die weit verbreitete Neigung zum
Konformismus, zum Abschieben von Verantwortung an den Staat und seine
Verwaltungen, das Unterwerfen unter fragwürdige Autoritäten und
kollektive Zwangssysteme, bürokratische Regeln und Gesetze haben zu
einem massiven Freiheitsverlust im persönlichen Leben und zu einer
Lähmung menschlicher Kreativität und Schaffenskraft geführt, die
Potenziale brachliegen lässt und uns damit wertvoller
Entwicklungsoptionen beraubt. Mit unserer Neigung, uns ständig unter
Nannys Schürze zu flüchten, stellen wir uns selbst zunehmend ins
Abseits.
Aus humanistischer Sicht, die den menschlichen Anspruch auf
selbstbestimmte Verantwortlichkeit ernst nimmt, ist gefordert, die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und ggf.
zu verändern, unter denen die Nanny-Kultur gedeiht. Wir müssen die
vorhandenen Ängste der Menschen ernstnehmen, ihre Sicherheitsbedürfnisse
respektieren und ihren Entfremdungstendenzen, Orientierungs-, Sinn- und
Bindungsverlusten durch konkrete lebensweltliche Angebote
entgegensteuern. Ziel muss es sein, eine produktive Lebenskultur zu
schaffen, indem sich im Sinne Erich Fromms eine gegen totalitäre
Fluchtmechanismen immune „Freiheit zu selbstbestimmten Leben“ dauerhaft
entwickeln kann.
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