Mittwoch, 5. August 2015

Die Furcht vor der Freiheit

Die Furcht vor der Freiheit
Die Auflösung der vor-individuellen Gesellschaft und die Abschaffung des Obrigkeitsstaates haben den Menschen ein Ausmaß an Freiheit beschert, das jahrhundertelang völlig unvorstellbar schien und die optimistischsten Erwartungen übertroffen hat. Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus und der unblutigen Revolution gegen das SED-Regime wurden zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden und die Freiheit erkämpft.
Doch die Menschen tun sich schwer mit der erkämpften Freiheit. Das freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die zunehmenden Globalisierungsprozesse haben zu massiven Unsicherheitsgefühlen, Bindungsverlusten und Orientierungsproblemen geführt, die neue Ängste heraufbeschwören und die Menschen zurücktreiben in scheinbar überwundene Muster kollektiver Zwangssysteme, in Konformismus, Destruktivität und sie sich neuen Autoritäten unterwerfen lässt.
Der Psychologe und Sozialphilosoph Erich Fromm legte 1941 eine sozialpsychologische Studie mit dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“ vor, in der er das Hinabgleiten in das diktatorische Unrechtsregime als eine Folge von Fluchtbewegungen analysierte, die aus zunehmender Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst resultierten. Die Freiheit habe dem Menschen zwar Unabhängigkeit und Rationalität gebracht, aber auch zu massiven Überforderungen geführt. Der Mensch habe es noch nicht vermocht, sein individuelles Selbst zu verwirklichen und seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Fromm gelangte somit zu einem doppelten Freiheitsbegriff: Freiheit von Unterdrückung müsse nicht zwangsläufig mit einer Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben einhergehen, sondern löse unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen antiliberale Fluchtmechanismen aus.
Folgen der „Furcht vor der Freiheit“ können wir in unserer heutigen Gesellschaft allgegenwärtig studieren. Die weit verbreitete Neigung zum Konformismus, zum Abschieben von Verantwortung an den Staat und seine Verwaltungen, das Unterwerfen unter fragwürdige Autoritäten und kollektive Zwangssysteme, bürokratische Regeln und Gesetze haben zu einem massiven Freiheitsverlust im persönlichen Leben und zu einer Lähmung menschlicher Kreativität und Schaffenskraft geführt, die Potenziale brachliegen lässt und uns damit wertvoller Entwicklungsoptionen beraubt. Mit unserer Neigung, uns ständig unter Nannys Schürze zu flüchten, stellen wir uns selbst zunehmend ins Abseits.
Aus humanistischer Sicht, die den menschlichen Anspruch auf selbstbestimmte Verantwortlichkeit ernst nimmt, ist gefordert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und ggf. zu verändern, unter denen die Nanny-Kultur gedeiht. Wir müssen die vorhandenen Ängste der Menschen ernstnehmen, ihre Sicherheitsbedürfnisse respektieren und ihren Entfremdungstendenzen, Orientierungs-, Sinn- und Bindungsverlusten durch konkrete lebensweltliche Angebote entgegensteuern. Ziel muss es sein, eine produktive Lebenskultur zu schaffen, indem sich im Sinne Erich Fromms eine gegen totalitäre Fluchtmechanismen immune „Freiheit zu selbstbestimmten Leben“ dauerhaft entwickeln kann.

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