Montag, 27. Juli 2015

Für einen wertgebundenen normativen Liberalismus


 Nudging
„Nudging“ heißt das neue Zauberwort, dem sich das politische Berlin verschrieben hat. Ein Nudge oder Stupser ist der Versuch, das Verhalten von Menschen ohne Verbote oder Befehle zu beeinflussen und zu verändern. Die Methode trägt der offensichtlichen Tatsache Rechnung, dass die alte Verbotskultur des Obrigkeitsstaates mit Verbotsschildern wie „Rasen betreten verboten“ und Hinweisen wie „Eltern haften für ihre Kinder“ in einer freiheitlichen Welt – oder zumindest in einer Welt, die den Anspruch erhebt, freiheitlich zu sein, ihren Charme völlig verloren hat. Der Begriff wurde vom Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und vom Rechtswissenschaftler Cass Sunstein in ihrem 2008 erschienenen Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ (deutscher Titel: „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) geprägt. Es geht den Autoren um Verhaltensänderung in eine gewünschte Richtung, um eine Beeinflussung ihrer „Entscheidungsarchitektur“.
Das Bestreben, menschliches Verhalten nach eigenen Vorstellungen zu verändern, bezeichnen wir gemeinhin als Paternalismus. Ärzte und Psychotherapeuten, auch Rechtsanwälte und besonders Lehrer, neigen in besonderer Weise zum Paternalismus. Sie wissen besser, oder glauben, besser zu wissen, was gut und was schlecht für ihre Patienten, Klienten, Mandanten und Schüler ist. Alle Angehörigen der Freien Berufe sind von ihrem edukativen oder therapeutischen Selbstverständnis her Paternalisten. Aufgrund ihres Wissensvorsprungs handeln sie zum Wohle der ihnen Anvertrauten, wenn sie deren Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen versuchen. Zumindest haben sie den Anspruch, in deren wohlverstandenem Interesse zu handeln. Und häufig, aber durchaus nicht immer, ist es auch so. Patienten, Klienten, Mandanten und Schüler folgen häufig den Anweisungen im Vertrauen, gelegentlich sträuben oder widersetzen sie sich, empfinden die Vorschriften und Maßregeln als anmaßende Bevormundung ihrer eigenen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.
Libertärer Paternalismus
Thaler und Sunstein bezeichnen ihr Modell als „libertären Paternalismus“. Was das bedeutet, lässt sich am Beispiel der Fliege zeigen: Männer, die ein Toilettenurinal verwenden, zielen bekanntlich häufig suboptimal – der verspritzte Urin wird zum Ärgernis. Auf der Flughafentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol hatte deshalb ein Betriebswirt die Idee, das Bild einer schwarzen Stubenfliege in die Schüsseln der Flughafen-Urinale zu ätzen, gleich neben dem Abfluss. Das Ergebnis war ausgesprochen positiv: 80 Prozent weniger ging daneben. Und das, obwohl kein Mann bei Androhung von Strafe oder sozialer Ächtung gezwungen wurde, die Fliege anzuzielen. Allein die Bereitstellung der „Entscheidungsarchitektur“ führte zum gewünschten Ergebnis: Eine freiwillige Verhaltensänderung. Dem Entscheider steht jederzeit die Möglichkeit offen, sich gegen den Weg zu entscheiden, auf den er “gestupst” wird. Libertärer Paternalismus eben.
Libertäre Paternalismus weiß genau, was für den Menschen gut ist. Er handelt zum Wohl der Bürger und bringt sie auf den rechten Weg. Wie sollen wir Liberale uns dazu stellen? Entfaltet dieses Modell nicht enormen Charme? Oder ist es am Ende wohl doch ein Anschlag auf die Freiheit? Immerhin: Solange mir als Toilettenbenutzer die Wahl bleibt, auf die Fliege zu zielen – oder aus Renitenz bewusst daneben, kann ich als Liberaler wohl mit dem Stubser ganz gut leben – allemal besser als mit Verbotsschildern, die mir an öffentlichen Gewässern auf unmissverständliche und wenig charmante Art das Baden untersagen. Allerdings nur, solange mir die Wahl bleibt – und solange aus dem Stubser kein übler Anrempler wird.
Wie erzieherisch dürfen Liberale sein?
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wieviel edukativen oder therapeutischen Anspruch wir Liberale uns zugestehen können und wollen. Ist es überhaupt mit unserem freiheitlichen, toleranten Anspruch zu vereinbaren, an anderen Menschen herumzuerziehen und herumzudoktern, wenn sie uns nicht ausdrücklich dazu aufgefordert haben? Mitunter reden wir uns mit mangelnder Reife oder Einsichtsfähigkeit heraus, bei Minderjährigen etwa oder bei Patienten mit bestimmten psychiatrischen Erkrankungen. Hier setzen wir uns im Interesse der Allgemeinheit und im angenommenen Eigeninteresse der Betroffenen über deren Eigenwillen hinweg. Dies wird gewöhnlich dann auch gesellschaftlich so weitgehend akzeptiert.
Wie aber steht es etwa mit volljährigen Obdachlosen, die im Innenstadtbereich – aus unserer Wahrnehmung – verwahrlosen, ihren Körper durch Drogen schädigen, ihr menschliches Potenzial scheinbar sinnlos verschleudern? Jedem unter uns, der die Welt mit humanistischem, therapeutischem oder erzieherischem Anspruch betrachtet, ziehen sich bei solchen Bildern die Eingeweide zusammen. Aus rechtlicher Sicht haben wir gar keine Möglichkeit, zu intervenieren, wenn die Betroffenen es nicht wollen. Die interessante Frage, die sich vor allem dem Liberalen stellt, ist aber: Dürfen oder sollten wir überhaupt auch nur den Anspruch erheben, hier eingreifen zu wollen? Verletzen wir nicht mit einem solchen Anspruch schon das Recht dieser Menschen auf Selbstbestimmung?
Relativismus
Es gibt nicht wenige Liberale und noch mehr Libertäre, die zum Werterelativismus neigen. Für sie ist jede Lebensform gleich gut und gleich schlecht, jede Erkenntnis gleich wahr und gleich falsch, jeder Sinneseindruck gleich schön und gleich hässlich. Zumindest behaupten sie das, weil es ihrem selbstkonstruierten Weltbild entspricht. Ich bestreite, dass es so ist, denn es gibt nachweislich uns angeborene Kategorien des Wahren, Guten und Schönen. Unser Gehirn ist so angelegt, dass es verbindliche Werturteile gibt, die wir nicht einfach beiseite wischen können. Auch wenn unser kulturrelativistisch ausgerichteter Neocortex es so haben möchte: Unsere älteren Gehirnanteile, das limbische System, die Basalganglien, unser Unterbewusstsein, haben genaue, entwicklungsgeschichtlich erworbene Vorstellungen davon, was gut, wahr und schön ist. Darum kommen auch Kulturrelativisten und Werterelativisten nicht herum.
Die Ikone der Relativisten ist Conchita Wurst, die Sängerin, Travestiekünstlerin, Dragqueen mit Vollbart, die ihr relativistisches Programm schon im Namen trägt: Die Lebensform, die sexuelle Identität, alles ist wurscht. Es gibt kein richtiger oder falscher, kein besser oder schlechter. Für Liberale und Libertäre relativistischer Gesinnung ist alles gleichermaßen zu akzeptieren und zu tolerieren. Es ist eh alles wurscht.
Wertgebundener Liberalismus
Keineswegs alle Liberalen waren und sind Werterelativisten. Die bedeutenden Ordoliberalen und Neoliberalen waren in ihren Vorstellungen alle dezidiert wertgebunden. In besonderer Weise trifft das auf Wilhelm Röpke zu. Er unterschied scharf zwischen bloßer Libertinage, dem „anything goes“ und einem wahren Liberalismus, der immer wertgebunden und für Röpke fest im Christentum verankert war. Er hatte klare Vorstellungen von Staat und Gesellschaft und vom autonomen, wertgebundenen, im Idealfall zur materiellen Selbstversorgung fähigen Bürger. Aus Sicht radikaltoleranter Relativisten war Röpke wenig tolerant. Mit Conchita Wurst und sehr vielen Erscheinungen der modernen Welt hätte er sich – und hat er sich (er starb 1966) sehr schwer getan.
Sicherlich werden wir heute vielem, was für Röpke Ausdruck von Vermassung, Entfremdung und Degeneration war, gelassener und toleranter begegnen. Unsere Welt verändert sich und wir mit ihr. Dem Bizarren, Schrillen begegnen wir mit viel mehr Offenheit, als Wilhelm Röpke dies tat. Dennoch bleibt aus meiner Sicht für Liberale, müssten wir uns zwischen den Idolen Conchita Wurst und Wilhelm Röpke entscheiden, die Antwort eindeutig und klar: Auch und gerade der liberale Mensch braucht Wertmaßstäbe und wertgebundene Orientierung. Sie erst verleiht ihm Sicherheit und Haltung. Ich plädiere hier für einen wertgebundenen Liberalismus, der auf verlässlichen Vorstellungen des Wahren, Guten und Schönen gründet.
Liberale und die Freien Berufe
Nicht ohne Grund kommen viele Liberale traditionellerweise aus den Freien Berufen, also aus dem gesellschaftlichen Segment, das in besonderer Weise paternalistische Neigungen und Vorstellungen entwickelt. Viele Liberale sind Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten, Lehrer und Erzieher, Rechtsanwälte. Sie arbeiten mit Menschen und in besonderer Weise am Menschen. Ein Arzt oder Therapeut, der keine Vorstellung von gesundheitsfördernder Lebensweise entwickeln und versuchen würde, seine Patienten oder Klienten in diesem Sinne zu beeinflussen, wäre kein guter Arzt oder Therapeut. Ein Lehrer, der keinen pädagogischen Anspruch hätte, wäre kein guter Lehrer. Freiberufler sind Dienstleister am Menschen und wollen, ja müssen, im Hinblick auf den Menschen wirken, verändern, beeinflussen. Sie tun dies, gerade als Liberale, mit freiheitlichem und humanistischem Anspruch. Gerade sie wissen, dass exzessive Toleranz auch Gleichgültigkeit bedeuten kann und den Verzicht darauf, Lebensverhältnisse von Menschen verbessern zu wollen.
Für einen wertgebundenen normativen Liberalismus
Liberale dürfen, wenn sie ihrem eigenen humanistischen Anspruch genügen wollen, therapeutisch und erzieherisch denken und handeln. Sie dürfen einen normativen Anspruch verfolgen und Lebensverhältnisse von Menschen verändern wollen und das tatsächlich tun. Das ist das Wesen und die Kernaufgabe von Politik. Hätten wir diesen Anspruch nicht, wäre unsere Organisation überhaupt keine politische Partei. Anders als bei unseren politischen Wettbewerbern steht aber immer der einzelne Mensch und sein prinzipielles Selbstbestimmungsrecht im Zentrum unserer Politik. Liberale machen Politik für die Menschen und im Interesse dieser Menschen. Wir dürfen menschliches Verhalten dabei auch verändern wollen.
„Nudging“ ist, wie jede Form des Paternalismus kein für Liberale gangbarer Weg, der mit einer toleranten Freiheitskultur kompatibel ist. Wir setzen bei gewünschter Verhaltensänderung von Menschen nicht auf Verbotsschilder oder grüne Verirrungen wie den „Veggie-Day“ oder den „Hundeführerschein“. Liberale wirken als Vorbilder, versuchen durch überzeugende Modelle zu wirken, durch eigenes Vorleben glaubwürdige Impulse zu vermitteln. Uns geht es dabei weniger um konkrete Lösungen oder Lebensstile. Die soll jeder Mensch für sich selbst herausfinden. Uns geht es um Mentalität, um Bewusstsein und um Lebenseinstellung, um eine Kultur des Mutes, des Optimismus und der Lebensfreude. Wir wenden uns gegen einen angstfixierten, depressiven Zeitgeist und die lähmende Lethargie, die seine Folge ist. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Mut zu machen, eigenständig zu denken und den eigenen Weg zu gehen, an sich zu glauben, sich zu entwickeln und zu entfalten. Wir kommunizieren, erklären politische Absichten so, wie es der gute Arzt und der gute Lehrer mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen tun. Dabei müssen wir kein schlechtes Gewissen haben. Wir sollten uns die Sinne nicht mit falschverstandenem werterelativistischem Toleranzgefasel vernebeln. Wir dürfen wirken und wir müssen das auch wollen.

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