Mittwoch, 5. August 2015

Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!


Psychologie und gesellschaftliches Leben des Neunzehnten Jahrhunderts waren tief geprägt vom Konzept des menschlichen Charakters. Menschlichem Empfinden, Denken und Handeln wurden Attribute zugeschrieben – es gab Menschen mit gutem, weniger gutem und schlechtem Charakter. Menschen wurde Entscheidungsgewalt zugeschrieben und damit die Fähigkeit, verantwortlich zu handeln: Menschen galten als frei in ihrem Tun und trugen Verantwortung.
Seit den 1890er Jahren erlebten wir eine schleichende Erosion der Verantwortungskultur durch die Sozialwissenschaften, die Anthropologie, aber auch die Psychologie. Die Umwelt galt nun als prägender Faktor menschlichen Handelns, die soziokulturellen Bedingungen, unter denen man aufwuchs, die soziale Schicht. Menschliche Taten wurden an der Biografie gemessen – die „schwierige“ Kindheit wurde häufig als Entschuldigungsgrund für menschliche Verfehlungen gesehen. Die Prägung durch Lebensumwelt galt nun als entscheidend. Charakter verlor an Bedeutung.
Mit dem Charakter verfiel auch die Verantwortungskultur. Verantwortung für menschliches Handeln wurde relativiert, die Herkunft und soziale Lage wurden verantwortlich gemacht, dann die falsche Erziehung durch die Eltern. Heute dienen Erkenntnisse der Neuropsychologie und Hirnforschung der Absolution menschlicher Schuld: Wenn das Unterbewusste unser Handeln prägt und Verhalten als elektrochemische Vorgänge an den Synapsen der Nervenzellen verstanden wird, ist der Mensch dann überhaupt noch frei in seinen Entscheidungen und verantwortlich für sein Handeln?
Bedingt durch dieses Menschenbild rückte das Schlechte menschlicher Existenz in den Fokus. Es galt und gilt, Benachteiligungen zu beseitigen, Behinderungen zu erkennen, menschliche Schwächen und Defizite herauszustellen. Der Mensch wird zunehmend als Opfer gesehen und menschliches Leben zunehmend pathologisiert. Mit dem Verfall des Charakterkonzeptes geriet das Edle, Gute, Starke und Gesunde menschlichen Seins in Vergessenheit. Wo uns früher die Zukunft antrieb zu Spitzenleistungen und menschlicher Größe, sind wir heute Gezogene unserer leidvollen Vergangenheit.
Viel zu lange war unsere Psychologie zentriert auf die Störung und das Leiden, auf negative Gefühle, auf das Pathologische und Tragische, die Entfremdung, die Depression und die Angst. Viel zu lange haben wir Menschen als Opfer gesehen, als hilflos Getriebene, tendenziell unfrei und verantwortungslos.
Die Humanistische Psychologie richtet den Fokus wieder auf das Gute im Menschen, auf positive Gefühle, positives Denken und Handeln, positive menschliche Beziehungen. Freier Wille, Entscheidung und Verantwortung sind tragende Konzepte dieser Positiven Psychologie. Der Charakter als prägender Bestandteil menschlicher Existenz gewinnt wieder an Bedeutung, damit auch charakterliche Bildung und Erziehung und Konzepte wie Belohnung und Strafe. Charakterstärke, Tugend und Talent sind wieder Orientierungsgrößen, ebenso Persönlichkeitsentfaltung, Leistung und Entwicklung. Menschliche Möglichkeiten liegen im Zentrum humanistischer Betrachtung: Wir sind nicht Getriebene unserer Vergangenheit, sondern aktive Gestalter unserer Zukunft.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen