Das Vorschulalter ist für die Entwicklung der Persönlichkeit von herausragender Bedeutung. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann fordert deshalb in einem Beitrag im neuen „liberal“-Magazin, in dieser sensiblen Phase den Einfluss des Staates auf die Kindererziehung massiv auszuweiten. Erst staatlicher Zugriff stelle Chancengerechtigkeit her, so Hurrelmann. Viele Kinder seien pädagogischer Unkenntnis und Mangelbereitschaft ihrer Eltern „auf Gedeih und Verderb“ ausgeliefert, erhielten in ihren Familien nicht die Anregungen und Unterstützungen, die sie für ihre körperliche, psychische, sprachliche, emotionale und intellektuelle Entwicklung unbedingt benötigten. Für sie seien staatliche Bildungseinrichtungen „überlebenswichtig“. Ohne sie fielen sie frühzeitig zurück und seien nicht in der Lage, den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens gerecht zu werden. Hurrelmann fordert deshalb einen möglichst hohen Anteil von Kindern in den vorschulischen Bildungseinrichtungen und einen möglichst langen Aufenthalt der Kinder in diesen Einrichtungen bei „intensiver Abstimmung der Erziehungsimpulse zwischen Elternhaus und Einrichtung“. Es sei falsch, Eltern die „absolute Monopolstellung bei der Erziehung, Pflege und Bildung der Kinder einzuräumen. Kurz gesagt fordert „Bildungsexperte“ Hurrelmann: Viel mehr Staat in der Kindererziehung.
Ich frage mich, was dieser Artikel überhaupt in einem liberalen Debattenmagazin zu suchen hat. Vielleicht war beabsichtigt, eine heftige liberale Immunreaktion hervorzurufen, denn nichts an Hurrelmanns Forderung ist liberal. Dem Liberalen stellen sich die Nackenhaare auf. Tatsächlich bedeutet Hurrelmanns „intensive Abstimmung“ nichts anderes, als das der Staat bei elterlicher Erziehung maßgeblich und überall mitbestimmt – von vorne bis hinten.
In unserem Grundgesetz heißt es in Artikel 6: „Erziehung und Pflege der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben dies in weiser Einsicht nach den grauenhaften Erfahrungen mit dem totalitären nationalsozialistischen Regime, das die Kindererziehung vollständig an sich gerissen hatte, so formuliert. Das war ausgesprochen liberal, denn es setzte ein hohes Maß an Vertrauen in die pädagogischen Fähigkeiten und in die Bereitschaft der Menschen. Es war aber auch deshalb liberal, weil es ein naturgegebenes Recht und eine naturgegebene Pflicht definierte, die sich aus dem Elternsein zwangsläufig ergibt.
Machen wir uns nichts vor: Staatliche Umerziehung und die mit ihr einhergehende Reifedegeneration und Erosion von Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit sowie die Auflösung solider traditioneller Familienstrukturen haben dazu geführt, dass viele Eltern den im Grundgesetz definierten Rechten und Pflichten bestenfalls noch rudimentär nachkommen und aus verschiedenenen Gründen auch gar nicht mehr in der Lage sind, dies leisten zu können. Für diese Kinder muss adäquate öffentliche Ersatzbetreuung sichergestellt werden. Als Liberale müssen wir aber daran festhalten, dass viele Eltern noch sehr wohl sowohl bereit als auch in der Lage sind, ihre Kinder entwicklungsgerecht zu fördern und zu erziehen. Wir müssen einerseits ihr Recht mit Zähnen und Klauen verteidigen, dies tun zu dürfen, als auch den unumkehrbaren Anspruch aufrechterhalten, sie niemals aus dieser elterlichen Verantwortung zu entlassen. Alles andere wäre zutiefst unliberal. Viele von uns sind noch weitgehend im privaten familiären Rahmen erzogen und liebevoll gefördert worden – in meinem Fall zum erheblichen Teil von den Großeltern. Die allermeisten von uns sind reife, verantwortungs- und handlungsfähige Menschen geworden. Wir müssen als Liberale dafür Sorge tragen, dass das so bleibt. Das bedeutet, grundsätzlich zunächst auf die Menschen zu setzen und ihnen die Erziehung ihrer Kinder zuzutrauen und auch zuzumuten - wie es immer schon war.