Montag, 20. Juli 2015

Die Suchtwirkung des Sozialstaats

Die Suchtwirkung des Sozialstaats

Haben sich unsere Sozialverwaltungen von ihrem eigentlichen Ziel entfernt? Ihrem Ziel, das darin besteht, den Bürger zu befähigen, ein unabhängiges Leben zu führen, eigenverantwortlich zu handeln und sein Leben in Freiheit selbst zu gestalten? Nehmen wir als Beispiel die Bundesagentur für Arbeit (BA, ehemals Bundesanstalt für Arbeit, umgangssprachlich Arbeitsamt), die Verwaltungsträgerin der deutschen Arbeitslosenversicherung. Sie erbringt die Sozialleistungen am Arbeitsmarkt, insbesondere Leistungen der Arbeitsvermittlung und -förderung sowie finanzielle Entgeltersatzleistungen, z. B. das Arbeitslosengeld. Sie ist eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und Anstaltscharakter. Wird diese BA ihrer Aufgabe der Hilfe zur Selbsthilfe für mündige, eigenverantwortliche Bürger gerecht?
Ich denke nicht. Die Bundesagentur für Arbeit ist zu einem Magneten geworden: Wer ihm nahe kommt, der wird von ihm angezogen. Und je näher man ihm kommt, desto stärker hält die BA den Bedürftigen mit ihren Verfahren, Formularen und Leistungen fest. Sie führt in die Abhängigkeit.
Die Sog- und Suchtwirkung des Sozialstaates lässt sich in den Arbeitsagenturen eindrucksvoll beobachten. Die Menschen wirken schwerfällig bedrückt, der unmenschlich-würdelosen Prozedur hilflos ausgeliefert. Kontroll- und Impulsverluste sind deutlich. Die Menschen kämpfen sich sozial isoliert durch ihren Formularwust. Die Agentur geißelt ihre „Kunden“ mit Zuckerbrot und Peitsche: Der Verlockung ihrer mildtätigen Finanzleistungen mag sich keiner entziehen. Dabei besteht seitens der Agentur kein Interesse, den Menschen zu würdevoller, selbstbestimmter Lebensführung zu verhelfen. Stattdessen liegt die Absicht in einer pfleglichen Verwaltung und Betreuung der Abhängigen.
Diese Ausrichtung der Sozialverwaltung widerspricht ihrer Kernfunktion, den Menschen zu helfen, zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Würde zurückzufinden. Zu fordern ist deshalb eine Verwaltungsstruktur, die wie ein umgepolter Magnet wirkt: Wer ihm nahekommt, muss immer wieder in die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zurückgebracht werden.
Mit politischen Mitteln allein wird sich die Verwaltungsstruktur des Sozialstaats kaum umkehren lassen. Appelle verpuffen, wo die scheinbare Interessenlage so eindeutig ist. Gefordert ist eine Emanzipation der Bürger von der Bürokratie. Gefordert ist, Mut zu machen, Lebenskrisen wie die Arbeitslosigkeit in eigener Regie, flankiert durch soziales Engagement des persönlichen Umfelds zu bewältigen. Dies ist ein schwieriger, aber notwendiger Weg zur Rückeroberung der eigenen Selbstbestimmung und Würde.
Hilfreich erscheinen aufklärerische Erziehung und Organisation von Selbsthilfe in Betroffenengruppen. Wichtig sind persönlichkeitsfördernde Impulse, die neues Selbstbewusstsein, Initiative und Unternehmergeist befördern. Die Betroffenengruppen können ein neues Gemeinschaftsgefühl generieren, das durch Zeiten der finanziellen Enge hindurchträgt. Die Menschen werden lernen, dass (vorübergehender) materieller Verzicht erträglich wird, wenn dafür Freiheit, Selbstrespekt und Würde zurückgewonnen werden.

Die erlernte Hilflosigkeit

Ein zentrales psychologisches Konzept, das im Zusammenhang mit der Abhängigkeit vom Sozialstaat und seinen Bürokratien eine Rolle spielt, ist das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit. Es geht davon aus, dass Individuen infolge von Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit ihre Verhaltensweisen massiv einengen, indem sie als unangenehm erlebte Zustände nicht mehr abstellen, obwohl sie es objektiv betrachtet könnten. Das von Martin Seligman und Steven Maier 1967 entwickelte Konzept bezeichnet die Erwartung eines Individuums, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können. Das Individuum erfährt einen Kontrollverlust, indem eine ausgeführte Handlung und die daraus resultierende Konsequenz als unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Diese Erwartung beeinflusst das weitere Erleben und Verhalten des Individuums und kann sich in motivationalen, kognitiven und emotionalen Defiziten manifestieren (Seligman, 1975). Spürbare Folgen des Verhaltens sind zunehmende Passivität und Initiativlosigkeit.
Entscheidungsspielräume und Handlungsspielräume werden zunehmend eingeschränkt. Die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln, verkümmert.
Die Folgen sind Abhängigkeit und zunehmende Fremdsteuerung. Beides steht im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht der sozialstaatlichen Institutionen, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe und rasche Rückführung arbeitslos gewordener Menschen in selbstgesteuertes Handeln und Eigenverantwortlichkeit zu gewährleisten.

“Starker Staat für starke Bürger”

(aus einem meiner Beiträge zur aktuellen FDP-Leitbilddiskussion)
[…] Ich denke, dass sowohl das liberale Staatsverständnis, wie auch das liberale Menschenbild Alleinstellungsmerkmale darstellen, die wir zur Profilierung herausarbeiten sollten.
“Starker Staat” ist ein konsequenter Rechtsstaat, der seine Funktionen auf wenige Bereiche begrenzt und bürgerschaftlichem Engagement möglichst große Freiräume lässt. Der starke Staat ist somit souverän und selbstbegrenzt, aber konsequent und entschlossen im Schutz und in der Förderung seiner Bürger.
Das liberale Menschenbild ist ein positives, das Menschen Kompetenz und Vernunft zuspricht und damit Würde garantiert, die sich aus freier Selbstbestimmung ergibt.
Diese Konzepte unterscheiden sich klar von schwarzen, roten und grünen Vorstellungen:
Ein diffuser Nanny-Staat, der krebsartig in alle Lebensbereiche hineinwuchert, der versorgt und betreut, vorschreibt und regelt bis zum Exzess, dabei aber immer weniger bewältigt, immer höhere Erwartungen weckt und diese immer schlechter bedient und damit Frustration und Staatsverdrossenheit hervorruft.
Ein Bürger, dem man weder Vernunft, noch Kompetenz, weder Bereitschaft, noch Befähigung zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zutraut und ihn deshalb in fürsorglich-betreuender Absicht zunehmend infantilisiert und damit seiner Würde beraubt.
Liberales Leitbild bleibt der Homo sapiens und wird weder der Homo demenz noch der Homo infantilis. […]

Für einen neu durchdachten freiheitlichen Strafvollzug.
 
Einer der Attentäter von Paris hat uns wieder bestätigt, was wir längst wussten: Unser Strafvollzug leistet keine Resozialisierung, sondern ist ein Ort, an dem Kleinkriminelle sich durch den Kontakt mit anderen Kriminellen verstärkt radikalisieren und erst recht dauerhaft auf die schiefe Bahn gebracht werden. Viele Inhaftierte werden erst in unseren Strafvollzugsanstalten zu Kriminellen gemacht. Der Knast wird häufig genug eine Hochschule für Straftäter.
Aber auch Inhaftierte, die sich nicht kriminalisieren lassen, werden durch die Umstände der Haft dauerhaft psychisch und oft auch physisch geschädigt. Im Knast herrscht ein ständiges latentes Klima von Gewalt. Körperverletzung ist an der Tagesordnung, Inhaftierte werden zu sexuellem Verkehr gezwungen, gedemütigt, bedroht. Zudem führt der Freiheitsentzug durch langfristige Naturdeprivation und das Eingesperrtsein in engen hässlichen Zellen mit offenen Toilettenschüsseln im Wohnbereich, häufig ohne eigene Dusche usw. zu dauerhaften psychischen Schäden.
Eine wirkliche wirksame Resozialisierung findet hingegen in der Regel nicht dauerhaft statt.
Wir sollten als Freie Demokraten über die gängige menschenunwürdige Praxis des Strafvollzugs in unserem Land hinausdenken, Alternativen erwägen und auch traditionelle Grundsätze des Strafvollzugs in Frage stellen.
Müssen wir als freiheitliche Demokraten heute noch den Grundsatz der Buße für eine Straftat vertreten? Ich denke nicht. Moderne freiheitliche Rechtsprechung muss m.E. drei Ziele verfolgen:
Erstens: Eine Schadensbereinigung samt Opferhilfe und Wiedergutmachung einer Straftat (soweit nachträglich möglich) zu erreichen
Zweitens: Eine wirksame Therapie und Resozialisierung des Straftäters zu leisten und
Drittens: Wirksame Verbrechensprophylaxe und Sicherheit der Bevölkerung sicherstellen.
Daraus folgt: Der Straftäter soll nicht mehr eine Strafe büßen, sondern er soll durch Verurteilung angehalten sein, Schäden seiner Straftat vor allem gegenüber den Opfern zu kompensieren und durch aktive Beiträge Wiedergutmachung zu leisten. Die Rechtsprechung der Nachkriegszeit war aus meiner Sicht eindeutig täterfixiert. Opfer kamen in der Regel zu kurz – sie blieben auf ihren Schäden sitzen. Lediglich Opferschutzorganisationen wie der „Weiße Ring“ haben bisher Opferinteressen vertreten. Straftäter wurden weggesperrt, die erheblichen Kosten trug die Öffentlichkeit – der Steuerzahler.
Im freiheitlichen Strafvollzug werden Haftstrafen nur noch für bestimmte gemeingefährliche Tätergruppen verhängt, sowie für solche Täter, die ihren Verpflichtungen zur Schadenskompensation mehrfach und dauerhaft nicht nachkommen. Für sie ist die Haft Beugehaft.
Alle anderen verurteilten Straftäter fallen nicht mehr dem Steuerzahler zur Last, sondern sind als Freigänger verpflichtet, erhebliche Wiedergutmachungsleistungen gegenüber den Opfern und der Öffentlichkeit zu erbringen. Sei es durch finanzielle Leistungen, sei es durch erbrachte Arbeitsleistungen. Zudem sind sie verpflichtet, sich Therapie- und Resozialisierungsmaßnahmen zu unterziehen. Ein Thomas Middelhoff und ein Uli Hoeneß gehören nicht auf Kosten der Steuerzahler in den Knast. Sie nützen dort niemandem. Sehr wohl aber können sie durch Strafzahlungen einen erheblichen Beitrag zur öffentlichen Wohlfahrt leisten. Ebenso gehört der alkoholisierte Autofahrer, der Personenschaden verursachte, oder der fahrlässige Ingenieur oder der Familienvater, der im Affekt Totschlag beging, nicht in den Knast. Sie alle sind nicht potenziell gemeingefährlich. Sie können aber alle aktive Wiedergutmachung leisten und sei es, indem sie eine heruntergekommene Schule durch Eigenarbeit sanieren oder (bei entsprechender Qualifikation und Persönlichkeitsstruktur) Alte und Pflegebedürftige betreuen.
Für die Gruppe der gemeingefährlichen Schwerkriminellen bleibt die Haftstrafe die einzige Option. Unter Umständen bis zum Lebensende, denn Schutz der Öffentlichkeit muss Vorrang haben vor dem Recht des Straftäters auf Freilassung. Allerdings muss der Vollzug menschenwürdig sein und einer kultivierten Gesellschaft angemessen. Therapie und Sozialintegration müssen einen hohen Stellenwert haben. Inhaftierte müssen zudem die Möglichkeit haben, durch Eigenarbeit erhebliche zusätzliche Privilegien innerhalb ihrer Unterbringung erwirtschaften zu können. Außerdem müssen sie an vielen sozialen Aktivitäten und Bildungsangeboten partizipieren können.
Fazit: Wir brauchen eine liberale Neuausrichtung von Verbrechensbestrafung und Strafvollzug. Sie müssen sich am Grundsatz der Humanität orientieren. Ebenso am Grundsatz der Wiedergutmachung. Hierbei müssen Opferinteressen im Mittelpunkt stehen. Der Straftäter soll nicht büßen, sondern aktiv an der Wiedergutmachung seiner Straftat, seiner Therapie und Resozialisierung mitarbeiten. Er wird hierdurch aktiviert, motiviert und zu konstruktiven, gemeinwohlorientierten Beiträgen angehalten, die letztlich in seinem eigenen Interesse liegen.

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