In Ruhe und Gelassenheit
Unsere Mittelschichtkinder werden heute mehr als optimal gefördert:
Musik, Kunst, Schwimmen, Reiten, Tennisspielen. Jede Aktivität ist
wichtig für die Gehirnentwicklung, die Feinmotorik, die
Sprachentwicklung. Eltern investieren viel Zeit und Geld in die diversen
Förderprogramme. Denn jede mögliche Förderung ist wichtig und muss
sein. Mitunter schon durch die Bauchdecke während der Schwangerschaft.
Die Folge dieser Förderung sind eine voller Stundenplan und Stress
schon im Kindesalter. Schätzungen zufolge zeigen drei bis zehn Prozent
depressive Symptome. Den Kindern fehlt Zeit zur ruhigen, von ihnen
selbst ausgehenden Entwicklung. Viele Kinder und Jugendliche empfinden
die Förderung als Überforderung, der sie nicht gewachsen sind. Die
Eltern reagieren auf die Störungen ihres Nachwuchses mit einer breiten
Therapiepalette: Logopädie, Physio- und Ergotherapie, LHS-Training,
Dyskalkulie-Therapie, Anti-Aggressions-Training, BrainGym und
Spieltherapie. Zusätzlich wartet viel zu häufig die chemische Keule in
Form von Methylphenidat – Ritalin, die Wunderwaffe.
Ritalin hat viele unerwünschte Nebenwirkungen, wie wir heute wissen.
Doch der ganze Therapiezirkus hat es auch. Kinder und Jugendliche
verlieren ihre Zeit. Zudem sind sie weitgehend fremdbestimmt und
manipuliert. Durch ständiges Therapieren selbsterzeugter Symptome werden
sie zudem pathologisiert, zum behandlungsbedürftigen Störfall erklärt.
Durch das nicht enden wollende Investment der Eltern wird zudem ein
ständig wachsender Erwartungsdruck erzeugt: Kinder und Jugendliche
sollen sich ständig verändern. Niemals können sie diesem
Veränderungsdruck gerecht werden. Die Folgen sind Ängste, Depressionen
bis hin zum Suizid.
Eltern verfahren nach dem Motto: Viel Input erzeugt viel Output. Doch
das Optimum wird sehr häufig weit überschritten. Wie wir wissen,
erzeugt Überfütterung bestenfalls Brechreiz. Was Kindern und
Jugendlichen heute fehlt, sind Raum und Zeit zur eigenen Entwicklung,
echte Beziehungen zu authentischen Bezugspersonen, Gelassenheit und
Freiraum.
Sie brauchen keine Eltern, die sie in gutgemeinter Absicht
überbehüten, sie vor Gewalt, Pornografie und anderen vermeintlichen
Übeln dieser Welt beschützen wollen. Zur gesunden Entwicklung gehört die
Konfrontation, die Auseinandersetzung mit Lebenswelt. Minderjährige
müssen ihr eigenes psychisches Immunsystem entwickeln. Dazu müssen sie
Erfahrungen machen können. Überprotektion macht sie zu psychischen
Autisten.
Die Fremdbestimmung im Jugendalter führt zu mangelndem
Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Wir übertragen unseren
Perfektionismus und unsere Atemlosigkeit auf unseren Nachwuchs. Der kann
die Erwartungen niemals erfüllen. Die Folge ist ein ständiges
Insuffizienzgefühl: Das Empfinden, nie zu genügen wird zur Drehscheibe
der gestörten Identität.
Lassen wir unsere Kinder in Ruhe! Lassen wir ihnen Freiraum zur
Entwicklung und Zeit. Kinder und Jugendliche lernen von ganz allein,
forschen und entdecken völlig aus eigenem Antrieb. Wir können sie
fördern, indem wir ihnen hier und da Impulse liefern, sie gelegentlich
mit Ausschnitten der Welt konfrontieren. Mehr bedarf es nicht. Alles
andere leisten sie ganz allein, nach eigenem Tempo und eigenem Fokus.
Ohne unsere Regie werden sie Erfolge und Misserfolge feiern. Und gerade
die Misserfolge werden es sein, die sie voranbringen.
Treten wir den Rückzug an. Viel öfter sollten wir unseren Nachwuchs
einfach nur beobachten. In Ruhe und Gelassenheit, unangestrengt und
unaufgeregt. Nicht mehr und nicht weniger.
Neun Thesen zu einer liberalen Bildungspolitik
1.Bildung braucht Strukturvielfalt: Eine Bildungslandschaft
vielfältiger Angebote, die der Unterschiedlichkeit der Menschen, ihrer
Möglichkeiten und Ziele gerecht wird. Staatliche, halbstaatliche und
private Träger konkurrieren innerhalb eines gesellschaftlich definierten
Rahmens um bessere Lösungen. Fremdfinanzierung der Bildungslandschaft
muss möglich sein, damit eine ausreichende finanzielle Ausstattung einer
qualitativ hochwertigen Bildung möglich wird.
2. Strukturelle Vielfalt steht nicht im Widerspruch zu einer
bundesweit vereinheitlichten Rahmengesetzgebung. Sechzehn verschiedene
Bildungspolitiken der Länder führen zu teuren und ineffektiven
Ergebnissen. Wir brauchen einen gemeinsamen bundespolitisch definierten
Rahmen, in dem dann kulturelle Vielfalt möglich wird.
3. Bildung ist Lebensaufgabe und muss individuell auf die Menschen in
allen Lebensaltern abgestimmt sein. Wir setzen auf ein differenziertes
Bildungsangebot von der Vorschulerziehung bis zur Seniorenbildung, das
unterschiedliche Bildungsnachfrage aller Altersgruppen ausreichend
bedient.
4. Bildung muss sich primär am Individuum orientieren, an seinen
individuellen Leistungsstärken und -schwächen, an seinen individuellen
Bedürfnissen und Lebensplanungen. Wir setzen auf Bildung in der Breite
ebenso wie auf Bildung in der Spitze. Jeder Mensch muss entsprechend
seiner individuellen Begabungen und Neigungen optimal gefördert werden.
Bildung bedeutet deshalb nicht Gleichmacherei, sondern gezielte
Entwicklung des Unterschiedlichen.
5. Bildung braucht Bezug zur Lebenswelt. Sie muss sich verstärkt an
individuellen Erfahrungen und lebensweltlichen Realitäten orientieren,
insbesondere an Qualifikationsansprüchen der Wirtschaft und der
Arbeitswelt. Sie darf sich aber nicht auf reinen Funktionalismus
beschränken. Bildung muss wieder verstärkt ganzheitlich ausgerichtet
sein.
6. Bildung ist nicht nur kognitiv, sondern ebenso emotional und
affektiv auszurichten. Gerade in der politischen Bildung sind Optimismus
und Motivation zum gemeinwohlorientierten und wirtschaftlich
nachhaltigen Leben von zentraler Bedeutung. Liberale Bildungspolitik
setzt ganz gezielt auf die Vermittlung von Einstellungen und
Wertstrukturen.
7. Bildung braucht neue methodische Konzepte. Frontalunterricht von
Großklassen mit Dompteursgehabe, das im akustischen Chaos endet und
passiven Konsumismus oder Totalverweigerung der Schüler und Studenten
zur Folge hat, darf keine Zukunft mehr haben. Der Lehrer der Zukunft ist
vor allem Berater, Initiator und Animator individuell ausgerichteter
aktiver und explorativer Lernunternehmungen der Schüler und Studenten,
die unter Anleitung ihren eigenen Lernerfolg planen und organisieren.
8. Bildung braucht Wahlfreiheit. Schüler und Studenten müssen sich
ihre Lerninstitutionen aussuchen können. Bildungsinstitutionen müssen
sich ihre Schüler und Studenten aussuchen können. Lernende müssen sich
Lehrende aussuchen und sie abwählen können. Lehrende müssen sich ihre
Lernenden aussuchen können. Lernbeziehungen können so auf einer
Grundlage gegenseitiger Neigung und gegenseitigen Vertrauens errichtet
werden.
9. Das Curriculum muss im Kontext bundespolitischer
Rahmengesetzgebung offen sein und von Lehrenden wie Lernenden, aber auch
von den Bildungsträgern gestaltet werden können. Es muss flexibel sein,
um sich verändernden Bildungsanforderungen und Bildungsnachfragen
anpassen zu können.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen