Montag, 20. Juli 2015

Neun Thesen zu einer liberalen Bildungspolitik

In Ruhe und Gelassenheit

Unsere Mittelschichtkinder werden heute mehr als optimal gefördert: Musik, Kunst, Schwimmen, Reiten, Tennisspielen. Jede Aktivität ist wichtig für die Gehirnentwicklung, die Feinmotorik, die Sprachentwicklung. Eltern investieren viel Zeit und Geld in die diversen Förderprogramme. Denn jede mögliche Förderung ist wichtig und muss sein. Mitunter schon durch die Bauchdecke während der Schwangerschaft.
Die Folge dieser Förderung sind eine voller Stundenplan und Stress schon im Kindesalter. Schätzungen zufolge zeigen drei bis zehn Prozent depressive Symptome. Den Kindern fehlt Zeit zur ruhigen, von ihnen selbst ausgehenden Entwicklung. Viele Kinder und Jugendliche empfinden die Förderung als Überforderung, der sie nicht gewachsen sind. Die Eltern reagieren auf die Störungen ihres Nachwuchses mit einer breiten Therapiepalette: Logopädie, Physio- und Ergotherapie, LHS-Training, Dyskalkulie-Therapie, Anti-Aggressions-Training, BrainGym und Spieltherapie. Zusätzlich wartet viel zu häufig die chemische Keule in Form von Methylphenidat – Ritalin, die Wunderwaffe.
Ritalin hat viele unerwünschte Nebenwirkungen, wie wir heute wissen. Doch der ganze Therapiezirkus hat es auch. Kinder und Jugendliche verlieren ihre Zeit. Zudem sind sie weitgehend fremdbestimmt und manipuliert. Durch ständiges Therapieren selbsterzeugter Symptome werden sie zudem pathologisiert, zum behandlungsbedürftigen Störfall erklärt. Durch das nicht enden wollende Investment der Eltern wird zudem ein ständig wachsender Erwartungsdruck erzeugt: Kinder und Jugendliche sollen sich ständig verändern. Niemals können sie diesem Veränderungsdruck gerecht werden. Die Folgen sind Ängste, Depressionen bis hin zum Suizid.
Eltern verfahren nach dem Motto: Viel Input erzeugt viel Output. Doch das Optimum wird sehr häufig weit überschritten. Wie wir wissen, erzeugt Überfütterung bestenfalls Brechreiz. Was Kindern und Jugendlichen heute fehlt, sind Raum und Zeit zur eigenen Entwicklung, echte Beziehungen zu authentischen Bezugspersonen, Gelassenheit und Freiraum.
Sie brauchen keine Eltern, die sie in gutgemeinter Absicht überbehüten, sie vor Gewalt, Pornografie und anderen vermeintlichen Übeln dieser Welt beschützen wollen. Zur gesunden Entwicklung gehört die Konfrontation, die Auseinandersetzung mit Lebenswelt. Minderjährige müssen ihr eigenes psychisches Immunsystem entwickeln. Dazu müssen sie Erfahrungen machen können. Überprotektion macht sie zu psychischen Autisten.
Die Fremdbestimmung im Jugendalter führt zu mangelndem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Wir übertragen unseren Perfektionismus und unsere Atemlosigkeit auf unseren Nachwuchs. Der kann die Erwartungen niemals erfüllen. Die Folge ist ein ständiges Insuffizienzgefühl: Das Empfinden, nie zu genügen wird zur Drehscheibe der gestörten Identität.
Lassen wir unsere Kinder in Ruhe! Lassen wir ihnen Freiraum zur Entwicklung und Zeit. Kinder und Jugendliche lernen von ganz allein, forschen und entdecken völlig aus eigenem Antrieb. Wir können sie fördern, indem wir ihnen hier und da Impulse liefern, sie gelegentlich mit Ausschnitten der Welt konfrontieren. Mehr bedarf es nicht. Alles andere leisten sie ganz allein, nach eigenem Tempo und eigenem Fokus. Ohne unsere Regie werden sie Erfolge und Misserfolge feiern. Und gerade die Misserfolge werden es sein, die sie voranbringen.
Treten wir den Rückzug an. Viel öfter sollten wir unseren Nachwuchs einfach nur beobachten. In Ruhe und Gelassenheit, unangestrengt und unaufgeregt. Nicht mehr und nicht weniger.

Neun Thesen zu einer liberalen Bildungspolitik

1.Bildung braucht Strukturvielfalt: Eine Bildungslandschaft vielfältiger Angebote, die der Unterschiedlichkeit der Menschen, ihrer Möglichkeiten und Ziele gerecht wird. Staatliche, halbstaatliche und private Träger konkurrieren innerhalb eines gesellschaftlich definierten Rahmens um bessere Lösungen. Fremdfinanzierung der Bildungslandschaft muss möglich sein, damit eine ausreichende finanzielle Ausstattung einer qualitativ hochwertigen Bildung möglich wird.
2. Strukturelle Vielfalt steht nicht im Widerspruch zu einer bundesweit vereinheitlichten Rahmengesetzgebung. Sechzehn verschiedene Bildungspolitiken der Länder führen zu teuren und ineffektiven Ergebnissen. Wir brauchen einen gemeinsamen bundespolitisch definierten Rahmen, in dem dann kulturelle Vielfalt möglich wird.
3. Bildung ist Lebensaufgabe und muss individuell auf die Menschen in allen Lebensaltern abgestimmt sein. Wir setzen auf ein differenziertes Bildungsangebot von der Vorschulerziehung bis zur Seniorenbildung, das unterschiedliche Bildungsnachfrage aller Altersgruppen ausreichend bedient.
4. Bildung muss sich primär am Individuum orientieren, an seinen individuellen Leistungsstärken und -schwächen, an seinen individuellen Bedürfnissen und Lebensplanungen. Wir setzen auf Bildung in der Breite ebenso wie auf Bildung in der Spitze. Jeder Mensch muss entsprechend seiner individuellen Begabungen und Neigungen optimal gefördert werden. Bildung bedeutet deshalb nicht Gleichmacherei, sondern gezielte Entwicklung des Unterschiedlichen.
5. Bildung braucht Bezug zur Lebenswelt. Sie muss sich verstärkt an individuellen Erfahrungen und lebensweltlichen Realitäten orientieren, insbesondere an Qualifikationsansprüchen der Wirtschaft und der Arbeitswelt. Sie darf sich aber nicht auf reinen Funktionalismus beschränken. Bildung muss wieder verstärkt ganzheitlich ausgerichtet sein.
6. Bildung ist nicht nur kognitiv, sondern ebenso emotional und affektiv auszurichten. Gerade in der politischen Bildung sind Optimismus und Motivation zum gemeinwohlorientierten und wirtschaftlich nachhaltigen Leben von zentraler Bedeutung. Liberale Bildungspolitik setzt ganz gezielt auf die Vermittlung von Einstellungen und Wertstrukturen.
7. Bildung braucht neue methodische Konzepte. Frontalunterricht von Großklassen mit Dompteursgehabe, das im akustischen Chaos endet und passiven Konsumismus oder Totalverweigerung der Schüler und Studenten zur Folge hat, darf keine Zukunft mehr haben. Der Lehrer der Zukunft ist vor allem Berater, Initiator und Animator individuell ausgerichteter aktiver und explorativer Lernunternehmungen der Schüler und Studenten, die unter Anleitung ihren eigenen Lernerfolg planen und organisieren.
8. Bildung braucht Wahlfreiheit. Schüler und Studenten müssen sich ihre Lerninstitutionen aussuchen können. Bildungsinstitutionen müssen sich ihre Schüler und Studenten aussuchen können. Lernende müssen sich Lehrende aussuchen und sie abwählen können. Lehrende müssen sich ihre Lernenden aussuchen können. Lernbeziehungen können so auf einer Grundlage gegenseitiger Neigung und gegenseitigen Vertrauens errichtet werden.
9. Das Curriculum muss im Kontext bundespolitischer Rahmengesetzgebung offen sein und von Lehrenden wie Lernenden, aber auch von den Bildungsträgern gestaltet werden können. Es muss flexibel sein, um sich verändernden Bildungsanforderungen und Bildungsnachfragen anpassen zu können.

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