Positive Psychologie als liberale Leitwissenschaft
Im Folgenden will ich ausführen, warum aus meiner Sicht der Positiven
Psychologie die Rolle einer Leitwissenschaft für die neue FDP und den
politischen Liberalismus generell zukommt. Hierzu ist eine knappe
Analyse unserer gesellschaftlichen Situation und des Zeitgeistes
notwendig. Zunächst aber ein paar Worte zu der liberalen
Leitwissenschaft.
Was ist die Positive Psychologie?
Die Positive Psychologie ist als kritische Antwort auf die Klinische
Psychologie entstanden, die sich mit psychischen Erkrankungen und
Störungen, mit Konflikten und Mängeln beschäftigt. Die Klinische
Psychologie ist defizitorientiert, sie diagnostiziert den Mangel und
versucht ihn zu beheben. Sie konzentriert sich folglich auf die Therapie
von Störungen.
Die Positive Psychologie ist hingegen ressourcenorientiert. Sie
pathologisiert nicht, sucht nicht die Störung. Sie betont das Gesunde,
das Funktionstüchtige, die Stärken von Menschen und deren
Selbstheilungskräfte. Positive Psychologie fokussiert sich auf Glück und
Lebenszufriedenheit von Menschen, auf Wachstumspotenziale der
Persönlichkeit, auf die Stärkung von Widerstandskräften und die
Förderung von Bewältigungsstrategien. Das Ziel ist die reife, gesunde,
stabile und entfaltete Persönlichkeit. Positive Psychologie richtet sich
auf menschliche Möglichkeiten, auf Leistungschancen und
Entfaltungspotenziale. Sie ist ein dezidiert optimistisches Programm
positiven Denkens, positiven Empfindens und positiven Handelns.
Wichtige Konzepte der Positiven Psychologie sind Ressource, Resilienz
und Salutogenese. Salutogenese beschäftigt sich mit der Entstehung von
Gesundheit als Gegenstück zur Pathogenese, die sich auf die Entstehung
von Krankheit fokussiert. Salutogenese, die Förderung von Gesundheit
wird als Prozess verstanden, in den man steuernd eingreifen kann.
Resilienz bezeichnet die Widerstandskraft gegenüber physischen und
psychischen Stressbelastungen. Auch Resilienz kann gefördert werden.
Ressourcen sind psychophysische Kraftquellen, die sich entdecken und
entwickeln lassen. Sie dienen dem Coping, der Bewältigung und
Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen.
Wie steht es um unsere Gesellschaft und den Zeitgeist?
Wir bewegen uns in einem gesellschaftlichen Umfeld, das sehr stark
von Pessimismus geprägt ist. Menschen glauben viel zu wenig an ihre
Möglichkeiten und an ihre Entfaltungspotenziale. Leistung hat in unserer
Gesellschaft einen zu geringen Stellenwert bekommen. In unserer
repräsentativen Demokratie glauben die Menschen viel zu wenig daran,
partizipieren zu können, die Fähigkeiten zu besitzen, etwas bewirken und
verändern zu können. Die Folge ist ein apathischer Rückzug aus dem
öffentlichen Raum. Oder eine anklagende und zugleich hilflose
Demonstration von „Wutbürgern“, wie wir es bei der Pegida-Bewegung
erleben.
Unsere Gesellschaft ist zutiefst von Depressionen und Angststörungen
geprägt. Ein überbordender Individualismus verlangt Menschen im Alltag
immer mehr ab. Sie müssen immer mehr selbst entscheiden, Lebensentwürfe
planen und Verantwortung tragen. Die Folge sind starke
Überforderungsgefühle und Empfindungen von Hilflosigkeit und der
Wahrnehmung, den Anforderungen des zunehmend komplexeren Lebens nicht
mehr gewachsen zu sein. Am Ende steht die Angsterkrankung, die
Depression und das zunehmende Verlangen nach Flucht: Der Weg in die
Sucht, oder, wenn nichts mehr hilft, in den Suizid.
Viele Menschen führt die Hilflosigkeit, die Depression und die Angst
zu einem gesellschaftlichen Rückzug, in die innere Emigration. Sie
stehen dem Leben, insbesondere dem politischen Leben, abweisend und
feindlich gegenüber. Sie sind hart und verbittert gegen sich selbst und
hart und verbittert gegen Andere. Sie lehnen alles Fremde ab, wenden
sich gegen Einwanderer, begegnen anderen Menschen zunehmend zynisch,
abweisend und unmenschlich. Sie verweigern Menschen in Not ihre Hilfe
und den menschlichen Umgang.
Noch nie ist es uns in Deutschland insgesamt so gut gegangen wie
heute. Noch nie war der allgemeine Wohlstand so üppig, die Armut so
gering, die gesundheitliche Versorgung so gut und die Lebenserwartung so
hoch. Noch nie hatten wir über eine so lange Zeit ein politisches
System, das Stabilität, Freiheit und Frieden gesichert hat. Flüchtlinge
aus aller Welt zieht es in unser gemeinsames Europa und in unser Land,
weil es uns hier so gut geht.
Doch die öffentliche Wahrnehmung erkennt das nicht an. Unser politisches
System, die repräsentative Demokratie, wird nicht wertgeschätzt. Unsere
Parteien, unsere Freiheit werden nicht wertgeschätzt. Die Partei der
Freiheit wird aus dem Parlament gewählt. Die europäische Union, Garant
von Frieden und Freiheit in Europa, wird nicht wertgeschätzt. Unsere
gemeinsame Währung, Garant für wirtschaftliche Prosperität, wird nicht
wergeschätzt. Die NATO, Garant für unsere Sicherheit, wird nicht
wertgeschätzt. Wir erkennen alle diese Leistungen nicht an, uns ist
nicht bewusst, was wir haben, uns ist nicht klar, was wir verlieren
können.
Wofür stehen Liberalismus und die Partei der Freiheit?
Liberale stehen – mehr als andere – für diese nicht ausreichend
wertgeschätzten Institutionen: Für unsere repräsentative Demokratie, für
unsere Verfassung, für die europäische Integration und die EU, für
unsere gemeinsame Währung, für die transatlantische Partnerschaft, für
die NATO.
Liberale stehen zudem – wieder mehr als andere – für Werte wie Freiheit,
Verantwortung, Leistung, Offenheit und Toleranz. Auch diese Werte
werden nicht ausreichend wertgeschätzt. Generell werden Werte nicht
ausreichend wertgeschätzt. Wertbewusstes Leben, Denken und Handeln
stehen nicht hoch im Kurs.
Es kann deshalb nicht überraschen, dass der Liberalismus, dass die FDP,
die Partei der Freiheit, die für nicht wertgeschätzte Institutionen und
für aufgegebene Werte stehen, sich in einer Krise befinden. Wie die
Inhalte, für die sie stehen, werden zwangsläufig auch die liberale
Partei und die Weltanschauung, die dahintersteht, nicht ausreichend
wertgeschätzt.
Kann sich das ändern? Es kann – und es muss, denke ich.
Was hat die Positive Psychologie uns Liberalen zu bieten?
Wie bei der Therapie eines Einzelmenschen mit einer Depression oder
Angststörung muss es auch uns Liberalen, die wir uns einer gewaltigen
kollektiven gesellschaftlichen Melange aus Angst, Verzweiflung, Missmut,
Wut und Zynismus gegenübersehen, darum gehen, Wahrnehmungen und
kognitive Verarbeitungen zu verändern, die die gesellschaftliche
Pessimismus-Welle generieren.
Die Positive Psychologie kann uns anleiten, die Welt um uns herum,
vor allem die politische Welt, anders wahrzunehmen, indem wir den
Blickwinkel verändern, genauer hinschauen und vergleichen. Uns fragen,
ob uns Institutionen und Werte tatsächlich so gleichgültig sind und so
wenig bedeuten. Uns die Vorstellung nahebringen, dies alles tatsächlich
verlieren zu können.
Sie kann uns Mechanismen der gelernten Hilflosigkeit offenlegen und
uns zeigen, wie wir aktiv und erfolgreich partizipieren können, uns in
politische Prozesse einbringen und mitwirken können. Sie kann uns ein
Bewusstsein vermitteln, dass wir selbstwirksam sind, dass wir Dinge
verändern, aber auch sie bewahren und sie verteidigen können.
Sie kann uns zeigen, wie man eine pessimistische Sicht auf die Dinge
gegen eine optimistische eintauscht und warum das gut für uns ist. Denn
Optimisten sind nicht nur erfolgreicher, sie sind auch gesünder und
leben länger.
Sie kann uns anleiten, wieder wertbewusster zu leben, die Natur und die
Gemeinschaft wieder zu schätzen, Bindungen wiederaufzubauen, die
Entfremdung und Isolation entgegenwirken.
Sie kann uns motivieren, uns für unsere Werte und Bindungen
einzusetzen, überzeugtere und engagiertere Familienmenschen zu sein,
Bürger unserer Kommune, Staatsbürger, leidenschaftliche Deutsche und
Europäer.
Sie kann uns Liberale darin bestärken, entschlossen und engagiert für
Institutionen und Werte einzutreten, die momentan wenig geschätzt
werden. Wenn wir selber überzeugt sind, können wir andere überzeugen.
Wenn wir selber begeistert sind, können wir andere begeistern. Wenn wir
mitgerissen sind, können wir andere mitreißen.
Unsere Gesellschaft benötigt dringend optimistische und engagierte
Streiter, Bewahrer und Verteidiger, Gestalter und Veränderer.
Wertbewusste und gemeinschaftsorientierte Menschen, leistungsorientiert,
das Gemeinwohl im Blick, selbstbewusst, tolerant, offen und
menschenfreundlich. Echte Liberale eben, die motiviert und optimistisch
eine freiheitliche Gesellschaft bauen.
Die Positive Psychologie hält den Werkzeugkasten bereit, den wir dafür brauchen.
Burnout
Obwohl sich die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten
deutlich verbessert haben und die körperliche Beanspruchung vieler
Tätigkeiten geringer geworden ist, erleben wir eine Zunahme von
psychischen und psychosomatischen Störungen: Burnout, die
Erschöpfungsdepression, scheint eine der größten individuellen
Herausforderungen unserer Zeit zu sein.
Unsere globalisierte Gesellschaft fordert von manchen Menschen, über
ihre Grenzen zu gehen: Mobilität, Flexibilität und permanente
Erreichbarkeit verursachen einen inneren Daueralarm, der langfristig zur
Überbelastung führt. Herbert J. Freudenberger prägte Anfang der 1970er
Jahre den Begriff „Burnout“, definiert als „einen Zustand erschöpfter
physischer und mentaler Ressourcen“, der in einem ursächlichem
Zusammenhang mit dem Arbeitsleben steht. Der amerikanische
Psychoanalytiker verstand den Zustand explizit nicht als psychische
Erkrankung, sondern als Folge einer lebensweltlichen
Überlastungssituation. Auch das DSM-V klassifiziert Burnout nicht als
psychische Erkrankung.
Gewöhnlich nimmt Burnout einen spiralförmigen Verlauf. Am Anfang steht
ein Gefühl von Erschöpfung. Man fühlt sich überfordert, unausgeschlafen
und kann nach der Arbeit schlecht abschalten. Zudem ist man unzufrieden
mit den Arbeitsergebnissen und der Arbeitssituation. Die eigenen
Erwartungen werden nicht annähernd erfüllt, was zu hoher Frustration und
Desillusionierung führt. Die Betroffenen haben keine Freude mehr an
ihrer Arbeit, erledigen nur noch das Nötigste und distanzieren sich von
Klienten und Kollegen. Häufig haben sie das Gefühl, ausgenutzt und nicht
anerkannt zu werden. Im Kontakt mit ihren Mitmenschen sind die
Betroffenen dann launisch, vorwurfsvoll, ungeduldig und gereizt, was zu
weiteren Konflikten führt. Der eigene Anteil an den Auseinandersetzungen
wird nicht gesehen. Wer sich aber selbst die Schuld an der Misere gibt,
reagiert eher depressiv. Die Betroffenen fühlen sich hilflos, sind
ängstlich und nervös. Angesichts der fehlenden Ressourcen, der eigenen
Unfähigkeit, etwas an ihrer krisenhaft zugespitzten Situation zu ändern,
schwindet ihre Selbstachtung immer mehr.
Die Folge dieser Entwicklung ist ein Abbau der kognitiven
Leistungsfähigkeit, Motivation und Kreativität. Die permanente
Anspannung und die daraus resultierende Erschöpfung führen zu
Konzentrations- und Gedächtnisschwächen. Komplexe Aufgaben zu lösen und
klare Entscheidungen zu treffen, fällt Betroffenen sehr schwer. Es kommt
zu einer Verflachung des emotionalen, sozialen und geistigen Lebens.
Die Menschen ziehen sich emotional zurück bis hin zur Gleichgültigkeit.
Sie vernachlässigen ihre Hobbys, ihre Freunde und ihre Familie, und
werden langsam einsam. Psychosomatische Reaktionen und
Somatisierungsstörungen treten nun gehäuft auf. Ebenso werden auch mehr
Alkohol, Kaffee, Tabak oder andere Drogen konsumiert. Schließlich
dominiert das Gefühl der Verzweiflung. Hilflosigkeit und Ohnmacht
gipfeln in einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit. Das Leben erscheint
sinn- und bedeutungslos. Es kommt zu Suizidvorstellungen.
Erschöpfungsdepression hat sehr viel mit Selbstfürsorge und
Selbstachtsamkeit zu tun. Nur wenn wir die Signale des Körpers und
unsere inneren Befindlichkeiten wahrnehmen können, sind wir in der Lage,
rechtzeitig gegenzusteuern. Viele Menschen gehen über ihre Grenzen,
weil sie diese nicht bemerken oder aber ignorieren. Am Beginn der
Spirale ist es möglich und notwendig, diese krankmachende Entwicklung zu
stoppen. Das setzt voraus, dass wir uns selbst mit unseren Gefühlen
ernst nehmen und uns Menschen suchen, die uns schätzen und uns bei der
Suche nach Lösungen und Alternativen unterstützen. Zu schnell fallen wir
in krisenhaft zugespitzten Situationen in alte, oft nicht mehr adäquate
Denk- und Verhaltensstrukturen zurück, die uns selbst nicht bewusst
sind. Das Wissen um die eigenen Bedürfnisse, Ressourcen und Grenzen ist
die Voraussetzung für eine bewusste Gestaltung des eigenen Lebens und
fördert die Fähigkeit zur gesunden Selbstfürsorge. Wir müssen lernen,
uns zu fordern, ohne uns zu überfordern, zur inneren Ruhe und
Gelassenheit finden, unsere Grenzen erkennen und respektieren und ein
Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln.
Unsere nachfolgend skizzierten Modelle der Selbsttherapie von Formen der
Erschöpfungsdepression orientieren sich an folgenden Prämissen:
1. Stressabbau – die Menschen müssen zur Ruhe kommen.
2. Selbstfindung – Sich-Bewusstmachen der eigenen Leistungsstärken und –schwächen.
3. Reorganisation der Arbeitstätigkeit. Die Arbeit soll fordern, nicht
überfordern. Der Arbeitsprozess darf nicht entfremdet sein.
Arbeitsergebnisse müssen (be)greifbar sein. Soziale Einbindung ist
zentral. Menschen müssen ein Verantwortungsgefühl für ihre
Arbeitstätigkeit entwickeln. Sie müssen über Freiheitsspielräume
verfügen, in denen sich Kreativität und Schöpfertum generieren lässt.
[…]
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