Montag, 20. Juli 2015

Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!

Persönlichkeitsbildung und menschlicher Adel
Karl Jaspers schrieb 1930 in „Die geistige Situation der Zeit“: Die Frage, ob menschliche Würde noch möglich sei, ist identisch mit der Frage, ob noch Adel möglich sei.“ Jaspers verstand unter dem Begriff nicht den Geburtsadel, sondern eine geistig-moralische Elite, die verkörpere, was edel und gut am Menschen sei. „Die Besten im Sinne eines Adels des Menschseins sind nicht schon die Begabten, welche man auslesen könnte, […], nicht schon geniale Menschen, die außergewöhnliche Werke schaffen, sondern unter allen diesen die Menschen, die sie selbst sind, im Unterschied von denen, die in sich nur eine Leere fühlen, keine Sache als die ihre kennen, sich selber fliehen. Es beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel. […] Man möchte die Entwicklung rückgängig machen, die für das Wesen der neueren, aber jetzt vergangenen Zeit gehalten wird, die Entfaltung der Persönlichkeit.“
Jaspers schrieb dies in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, in der Spätphase der Weimarer Republik. Die Fragen, die er stellt, sind allerdings heute so aktuell, wie sie es damals waren. Sie scheinen zeitlos gültig. Wir leben heute in einer Massengesellschaft, in der Gleichheit über Freiheit dominiert. Es zählt die Mehrheitsentscheidung, die Quote, nicht die Entscheidung für Qualität. Das Herausragende, die Spitzenleistung, wird kritisch beargwöhnt. Das Individuelle, Originelle ist vielen suspekt. Identifikationsobjekte sind Marken: Das Lacoste-Shirt und der Mercedesstern. Nicht die Genialität eines forschenden Wissenschaftlers. Die Kultur der Massengesellschaft ist eine Kultur des Mittelmaßes, bestenfalls. Oft genug dominiert das menschenunwürdig Banale.
Unsere demokratischen westlichen Gesellschaften tun sich schwer mit Eliten. Bestenfalls werden noch Leistungseliten akzeptiert, deren Erfolg sich quantitativ bemessen lässt. Aber wie steht es mit dem Adel im Sinne Karl Jaspers? Schätzen wir Menschen noch für das Edle ihres Denkens und Empfindens, für das Gute Ihres Tuns? Ist die Entfaltung der Persönlichkeit noch eine Leitkategorie in Bildung und Erziehung in unseren Schulen – oder doch längst die bloße Funktionalität des „Wertvoll ist, was Geldwert schafft“?
Für Karl Jaspers waren die Besten „im Sinne des Adels des Menschen“ jene, „die sie selbst sind“. Dies war weniger eine Leistungselite, als eine Bewusstseinselite, eine Entfaltungselite, eine Freiheitselite und vor allem eine Verantwortungselite.
Wie stehen evolutionäre Humanisten zum Konzept der Elite? Vertreten wir eine Zielrichtung der Persönlichkeitsbildung? Haben wir eine Vorstellung davon, was eine gute, menschliche Entwicklung ausmacht? Welche Rolle spielt die Entfaltung unserer Anlagen und Möglichkeiten? Das Ausleben menschlicher Vielfalt? Die individuelle Eigentlichkeit? Gibt es für evolutionäre Humanisten einen Begriff des menschlichen Adels im Sinne Karl Jaspers?

Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!
Psychologie und gesellschaftliches Leben des Neunzehnten Jahrhunderts waren tief geprägt vom Konzept des menschlichen Charakters. Menschlichem Empfinden, Denken und Handeln wurden Attribute zugeschrieben – es gab Menschen mit gutem, weniger gutem und schlechtem Charakter. Menschen wurde Entscheidungsgewalt zugeschrieben und damit die Fähigkeit, verantwortlich zu handeln: Menschen galten als frei in ihrem Tun und trugen Verantwortung.
Seit den 1890er Jahren erlebten wir eine schleichende Erosion der Verantwortungskultur durch die Sozialwissenschaften, die Anthropologie, aber auch die Psychologie. Die Umwelt galt nun als prägender Faktor menschlichen Handelns, die soziokulturellen Bedingungen, unter denen man aufwuchs, die soziale Schicht. Menschliche Taten wurden an der Biografie gemessen – die „schwierige“ Kindheit wurde häufig als Entschuldigungsgrund für menschliche Verfehlungen gesehen. Die Prägung durch Lebensumwelt galt nun als entscheidend. Charakter verlor an Bedeutung.
Mit dem Charakter verfiel auch die Verantwortungskultur. Verantwortung für menschliches Handeln wurde relativiert, die Herkunft und soziale Lage wurden verantwortlich gemacht, dann die falsche Erziehung durch die Eltern. Heute dienen Erkenntnisse der Neuropsychologie und Hirnforschung der Absolution menschlicher Schuld: Wenn das Unterbewusste unser Handeln prägt und Verhalten als elektrochemische Vorgänge an den Synapsen der Nervenzellen verstanden wird, ist der Mensch dann überhaupt noch frei in seinen Entscheidungen und verantwortlich für sein Handeln?
Bedingt durch dieses Menschenbild rückte das Schlechte menschlicher Existenz in den Fokus. Es galt und gilt, Benachteiligungen zu beseitigen, Behinderungen zu erkennen, menschliche Schwächen und Defizite herauszustellen. Der Mensch wird zunehmend als Opfer gesehen und menschliches Leben zunehmend pathologisiert. Mit dem Verfall des Charakterkonzeptes geriet das Edle, Gute, Starke und Gesunde menschlichen Seins in Vergessenheit. Wo uns früher die Zukunft antrieb zu Spitzenleistungen und menschlicher Größe, sind wir heute Gezogene unserer leidvollen Vergangenheit.
Viel zu lange war unsere Psychologie zentriert auf die Störung und das Leiden, auf negative Gefühle, auf das Pathologische und Tragische, die Entfremdung, die Depression und die Angst. Viel zu lange haben wir Menschen als Opfer gesehen, als hilflos Getriebene, tendenziell unfrei und verantwortungslos.
Die Humanistische Psychologie richtet den Fokus wieder auf das Gute im Menschen, auf positive Gefühle, positives Denken und Handeln, positive menschliche Beziehungen. Freier Wille, Entscheidung und Verantwortung sind tragende Konzepte dieser Positiven Psychologie. Der Charakter als prägender Bestandteil menschlicher Existenz gewinnt wieder an Bedeutung, damit auch charakterliche Bildung und Erziehung und Konzepte wie Belohnung und Strafe. Charakterstärke, Tugend und Talent sind wieder Orientierungsgrößen, ebenso Persönlichkeitsentfaltung, Leistung und Entwicklung. Menschliche Möglichkeiten liegen im Zentrum humanistischer Betrachtung: Wir sind nicht Getriebene unserer Vergangenheit, sondern aktive Gestalter unserer Zukunft.


Freiheitlicher Humanismus und humanistischer Liberalismus?
Den verschiedenen Strömungen des Humanismus ist ein menschenfreundliches und optimistisches Menschenbild zu eigen, das davon ausgeht, menschliches Leben verbessern zu können. Grundlage humanistischer Konzeptionen ist ein Gesellschaftsmodell, das Menschen die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung garantiert. Damit verbindet sich Kritik an bestehenden politischen und sozioökonomischen Verhältnissen, die aus humanistischer Sicht diesem Ziel entgegenstehen. Zentraler Kernbestandteil jeder humanistischen Konzeption sind Bildung und Aufklärung, die menschliche Emanzipation und die Entfaltung der reifen, freien, verantwortlichen Persönlichkeit anstreben.
Der Liberalismus ist eine politische und sozialphilosophische Bewegung, die eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung anstrebt. Leitziel des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Machtapparaten. Neben dem Konservatismus und dem Sozialismus wird er zu den drei großen politischen Ideologien gezählt, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa herausgebildet haben. Die individuelle persönliche Freiheit ist nach liberaler Überzeugung die Grundnorm einer jeden menschlichen Gesellschaft, auf die hin Staat und Gesellschaft ihre politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung auszurichten haben. Dabei wird unter Freiheit zunächst vor allem die Abwesenheit jeglicher Gewalt und jedes Zwangs verstanden, insbesondere von staatlicher Seite. In einem engeren Sinne liberalistischer Positionen beschränkt sich die Rolle des Staates auf den konkreten Schutz der Freiheit der Individuen und der die Freiheit garantierenden Rechtsordnung.
Freiheit bedeutet nach liberalem Verständnis nicht nur „Freiheit von“, sondern vor allem auch „Freiheit zu“, also nicht nur Abwesenheit von staatlichem und gesellschaftlichem Zwang, sondern auch die Befähigung zu einem selbstbestimmten und würdevollen Leben in Verantwortung. Verantwortung für sich selbst und für andere ist der Kernbestandteil jeder liberalen Botschaft: Ohne Verantwortung ist Freiheit nicht möglich.
Humanismus und Liberalismus, so verstanden, zielen auf dasselbe ab: Basierend auf der Grundannahme, dass der Mensch sich in Freiheit am besten und wirkungsvollsten zu einer verantwortlichen, reifen Persönlichkeit entfalten kann, die der menschlichen Natur entspricht, streben sie eine Veränderung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse an, die dem Leben in Freiheit, Verantwortung und menschlicher Würde besser entspricht. Zentrales Element dieses freiheitlich-humanistischen Anspruchs ist die aufklärerische Bildung.
So verstanden, ist wahrer Liberalismus immer humanistisch geprägt, während andererseits wahrer Humanismus immer freiheitlich geprägt ist. Ein antihumanistischer Liberalismus ist folglich ebenso denkunmöglich, wie ein antifreiheitlicher Humanismus. Humanismus und Liberalismus bedingen einander. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille.
Macht es deshalb Sinn, von Freiheitlichem Humanismus zu sprechen, wenn es einen unfreiheitlichen Humanismus eigentlich nicht gibt? Macht es Sinn, von Humanistischem Liberalismus zu sprechen, wenn es einen antihumanistischen Liberalismus eigentlich nicht gibt? Beide Begriffe wirken redundant, etwa wie „Trächtige Schwangerschaft“. Sollten sie deshalb vermieden werden?
Ich denke, sie sind solange sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht unerhebliche Strömungen gibt, die einen Liberalismus vertreten, der antihumanistisch geprägt ist und menschliche Würde und sozialen Zusammenhalt nicht ausreichend respektiert. Sie sind ebenfalls solange sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht unerhebliche Strömungen gibt, die einen unfreiheitlichen Humanismus vertreten, der mehr auf den Staat und das Kollektiv abzielt, als auf das Individuum, und der eher an Gesetze und staatliche Reglementierung denkt, als an den einzelnen, eigenverantwortlichen Bürger.
Solange es diese Positionen gibt, denke ich, kann es nicht schaden, sich als humanistischer Liberaler zu bezeichnen und als freiheitlicher Humanist. Selbst, wenn man das Gefühl hat, es klingt wie „eine trächtige Schwangere“…

Die Furcht vor der Freiheit
Die Auflösung der vor-individuellen Gesellschaft und die Abschaffung des Obrigkeitsstaates haben den Menschen ein Ausmaß an Freiheit beschert, das jahrhundertelang völlig unvorstellbar schien und die optimistischsten Erwartungen übertroffen hat. Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus und der unblutigen Revolution gegen das SED-Regime wurden zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden und die Freiheit erkämpft.
Doch die Menschen tun sich schwer mit der erkämpften Freiheit. Das freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die zunehmenden Globalisierungsprozesse haben zu massiven Unsicherheitsgefühlen, Bindungsverlusten und Orientierungsproblemen geführt, die neue Ängste heraufbeschwören und die Menschen zurücktreiben in scheinbar überwundene Muster kollektiver Zwangssysteme, in Konformismus, Destruktivität und sie sich neuen Autoritäten unterwerfen lässt.
Der Psychologe und Sozialphilosoph Erich Fromm legte 1941 eine sozialpsychologische Studie mit dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“ vor, in der er das Hinabgleiten in das diktatorische Unrechtsregime als eine Folge von Fluchtbewegungen analysierte, die aus zunehmender Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst resultierten. Die Freiheit habe dem Menschen zwar Unabhängigkeit und Rationalität gebracht, aber auch zu massiven Überforderungen geführt. Der Mensch habe es noch nicht vermocht, sein individuelles Selbst zu verwirklichen und seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Fromm gelangte somit zu einem doppelten Freiheitsbegriff: Freiheit von Unterdrückung müsse nicht zwangsläufig mit einer Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben einhergehen, sondern löse unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen antiliberale Fluchtmechanismen aus.
Folgen der „Furcht vor der Freiheit“ können wir in unserer heutigen Gesellschaft allgegenwärtig studieren. Die weit verbreitete Neigung zum Konformismus, zum Abschieben von Verantwortung an den Staat und seine Verwaltungen, das Unterwerfen unter fragwürdige Autoritäten und kollektive Zwangssysteme, bürokratische Regeln und Gesetze haben zu einem massiven Freiheitsverlust im persönlichen Leben und zu einer Lähmung menschlicher Kreativität und Schaffenskraft geführt, die Potenziale brachliegen lässt und uns damit wertvoller Entwicklungsoptionen beraubt. Mit unserer Neigung, uns ständig unter Nannys Schürze zu flüchten, stellen wir uns selbst zunehmend ins Abseits.
Aus humanistischer Sicht, die den menschlichen Anspruch auf selbstbestimmte Verantwortlichkeit ernst nimmt, ist gefordert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und ggf. zu verändern, unter denen die Nanny-Kultur gedeiht. Wir müssen die vorhandenen Ängste der Menschen ernstnehmen, ihre Sicherheitsbedürfnisse respektieren und ihren Entfremdungstendenzen, Orientierungs-, Sinn- und Bindungsverlusten durch konkrete lebensweltliche Angebote entgegensteuern. Ziel muss es sein, eine produktive Lebenskultur zu schaffen, indem sich im Sinne Erich Fromms eine gegen totalitäre Fluchtmechanismen immune „Freiheit zu selbstbestimmten Leben“ dauerhaft entwickeln kann.

Die Suche nach Sinn, Ziel und Richtung
Vor kurzem las ich in meiner persönlichen Mail folgendes:
“Du bist ständig auf Sinnsuche. Das ist typisch für Menschen die sich mit Psychologie beschäftigen. Warum lebst Du nicht einfach. Es muss doch nicht in allem ein Sinn stecken. Hauptsache ist doch man macht es gerne, wenn nicht, lässt man es halt. Und um existentielle Dinge kommt man nicht drum herum, auch wenn sie vielleicht in Deinen Augen keinen Sinn haben. Glaub mir, ohne ständige Sinnsuche ist das Leben einfacher. Liebe, lache, weine ohne Sinn!“
Einige Wochen vorher sprach ich mit einer sehr gläubigen Protestantin über Sinn, Ziel und Richtung des Lebens. Sie sagte, sie müsse über all dies nicht nachdenken. Der Sinn ihres Lebens sei Gott. Das Ziel ihres Lebens sei Gott. Die Richtung ihres Lebens sei Gott.
Und dann höre ich häufig von atheistischer Seite, Sinnsuche sei ein mystisches, pseudoreligiöses Unterfangen, das der rational denkende Mensch tunlichst vermeiden solle. Es gebe keinen Sinn im Leben. Unsere Existenz sei völlig absurd und sinnlos.
Ich teile diese Auffassungen nicht. Für eine psychisch gesunde Entwicklung einer reifen, erfüllten Persönlichkeit bedarf es einer Sinngebung, eines Lebenszieles und einer Lebensrichtung. Und Sinn, Ziel und Richtung sollten nicht verbindlich von außen vorgegeben sein, sondern müssen aus uns selbst kommen. Wir selbst bestimmen unseren Weg, aber damit wir uns nicht verirren in Beliebigkeit und abgleiten in Zynismus, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, brauchen wir diesen Halt, dieses Geländer. Dieses Geländer mag Gott sein. Im völligen Gottvertrauen zu leben, macht das Leben einfacher, weil ich nicht fragen muss, nicht hinterfragen muss, nicht suchen muss.
Der freie Mensch entscheidet sich für den schwierigeren Weg der Suche, aber gegen die Beliebigkeit und den Zynismus. Wir wachsen mit einer Aufgabe, der wir uns verschreiben, in deren Dienst wir uns stellen. Sie gibt unserem Leben Sinn, Ziel und Richtung. Sie verleiht unserem Leben Halt, Orientierung und Perspektive. Doch der gewählte Weg ist nie endgültig, die gewählte Aufgabe nie erfüllt. Ständig müssen wir uns neu fragen und hinterfragen. Ständig neu suchen. Die Suche nach dem Lebenssinn bleibt unsere Lebensaufgabe und der Weg dorthin unser Ziel.

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