Persönlichkeitsbildung und menschlicher Adel
Karl Jaspers schrieb 1930 in „Die geistige Situation der Zeit“: Die
Frage, ob menschliche Würde noch möglich sei, ist identisch mit der
Frage, ob noch Adel möglich sei.“ Jaspers verstand unter dem Begriff
nicht den Geburtsadel, sondern eine geistig-moralische Elite, die
verkörpere, was edel und gut am Menschen sei. „Die Besten im Sinne eines
Adels des Menschseins sind nicht schon die Begabten, welche man
auslesen könnte, […], nicht schon geniale Menschen, die außergewöhnliche
Werke schaffen, sondern unter allen diesen die Menschen, die sie selbst
sind, im Unterschied von denen, die in sich nur eine Leere fühlen,
keine Sache als die ihre kennen, sich selber fliehen. Es beginnt heute
der letzte Feldzug gegen den Adel. […] Man möchte die Entwicklung
rückgängig machen, die für das Wesen der neueren, aber jetzt vergangenen
Zeit gehalten wird, die Entfaltung der Persönlichkeit.“
Jaspers schrieb dies in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus,
in der Spätphase der Weimarer Republik. Die Fragen, die er stellt, sind
allerdings heute so aktuell, wie sie es damals waren. Sie scheinen
zeitlos gültig. Wir leben heute in einer Massengesellschaft, in der
Gleichheit über Freiheit dominiert. Es zählt die Mehrheitsentscheidung,
die Quote, nicht die Entscheidung für Qualität. Das Herausragende, die
Spitzenleistung, wird kritisch beargwöhnt. Das Individuelle, Originelle
ist vielen suspekt. Identifikationsobjekte sind Marken: Das
Lacoste-Shirt und der Mercedesstern. Nicht die Genialität eines
forschenden Wissenschaftlers. Die Kultur der Massengesellschaft ist eine
Kultur des Mittelmaßes, bestenfalls. Oft genug dominiert das
menschenunwürdig Banale.
Unsere demokratischen westlichen Gesellschaften tun sich schwer mit
Eliten. Bestenfalls werden noch Leistungseliten akzeptiert, deren Erfolg
sich quantitativ bemessen lässt. Aber wie steht es mit dem Adel im
Sinne Karl Jaspers? Schätzen wir Menschen noch für das Edle ihres
Denkens und Empfindens, für das Gute Ihres Tuns? Ist die Entfaltung der
Persönlichkeit noch eine Leitkategorie in Bildung und Erziehung in
unseren Schulen – oder doch längst die bloße Funktionalität des
„Wertvoll ist, was Geldwert schafft“?
Für Karl Jaspers waren die Besten „im Sinne des Adels des Menschen“
jene, „die sie selbst sind“. Dies war weniger eine Leistungselite, als
eine Bewusstseinselite, eine Entfaltungselite, eine Freiheitselite und
vor allem eine Verantwortungselite.
Wie stehen evolutionäre Humanisten zum Konzept der Elite? Vertreten wir
eine Zielrichtung der Persönlichkeitsbildung? Haben wir eine Vorstellung
davon, was eine gute, menschliche Entwicklung ausmacht? Welche Rolle
spielt die Entfaltung unserer Anlagen und Möglichkeiten? Das Ausleben
menschlicher Vielfalt? Die individuelle Eigentlichkeit? Gibt es für
evolutionäre Humanisten einen Begriff des menschlichen Adels im Sinne
Karl Jaspers?
Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!
Psychologie und gesellschaftliches Leben des Neunzehnten Jahrhunderts
waren tief geprägt vom Konzept des menschlichen Charakters.
Menschlichem Empfinden, Denken und Handeln wurden Attribute
zugeschrieben – es gab Menschen mit gutem, weniger gutem und schlechtem
Charakter. Menschen wurde Entscheidungsgewalt zugeschrieben und damit
die Fähigkeit, verantwortlich zu handeln: Menschen galten als frei in
ihrem Tun und trugen Verantwortung.
Seit den 1890er Jahren erlebten wir eine schleichende Erosion der
Verantwortungskultur durch die Sozialwissenschaften, die Anthropologie,
aber auch die Psychologie. Die Umwelt galt nun als prägender Faktor
menschlichen Handelns, die soziokulturellen Bedingungen, unter denen man
aufwuchs, die soziale Schicht. Menschliche Taten wurden an der
Biografie gemessen – die „schwierige“ Kindheit wurde häufig als
Entschuldigungsgrund für menschliche Verfehlungen gesehen. Die Prägung
durch Lebensumwelt galt nun als entscheidend. Charakter verlor an
Bedeutung.
Mit dem Charakter verfiel auch die Verantwortungskultur. Verantwortung
für menschliches Handeln wurde relativiert, die Herkunft und soziale
Lage wurden verantwortlich gemacht, dann die falsche Erziehung durch die
Eltern. Heute dienen Erkenntnisse der Neuropsychologie und
Hirnforschung der Absolution menschlicher Schuld: Wenn das Unterbewusste
unser Handeln prägt und Verhalten als elektrochemische Vorgänge an den
Synapsen der Nervenzellen verstanden wird, ist der Mensch dann überhaupt
noch frei in seinen Entscheidungen und verantwortlich für sein Handeln?
Bedingt durch dieses Menschenbild rückte das Schlechte menschlicher
Existenz in den Fokus. Es galt und gilt, Benachteiligungen zu
beseitigen, Behinderungen zu erkennen, menschliche Schwächen und
Defizite herauszustellen. Der Mensch wird zunehmend als Opfer gesehen
und menschliches Leben zunehmend pathologisiert. Mit dem Verfall des
Charakterkonzeptes geriet das Edle, Gute, Starke und Gesunde
menschlichen Seins in Vergessenheit. Wo uns früher die Zukunft antrieb
zu Spitzenleistungen und menschlicher Größe, sind wir heute Gezogene
unserer leidvollen Vergangenheit.
Viel zu lange war unsere Psychologie zentriert auf die Störung und das
Leiden, auf negative Gefühle, auf das Pathologische und Tragische, die
Entfremdung, die Depression und die Angst. Viel zu lange haben wir
Menschen als Opfer gesehen, als hilflos Getriebene, tendenziell unfrei
und verantwortungslos.
Die Humanistische Psychologie richtet den Fokus wieder auf das Gute im
Menschen, auf positive Gefühle, positives Denken und Handeln, positive
menschliche Beziehungen. Freier Wille, Entscheidung und Verantwortung
sind tragende Konzepte dieser Positiven Psychologie. Der Charakter als
prägender Bestandteil menschlicher Existenz gewinnt wieder an Bedeutung,
damit auch charakterliche Bildung und Erziehung und Konzepte wie
Belohnung und Strafe. Charakterstärke, Tugend und Talent sind wieder
Orientierungsgrößen, ebenso Persönlichkeitsentfaltung, Leistung und
Entwicklung. Menschliche Möglichkeiten liegen im Zentrum humanistischer
Betrachtung: Wir sind nicht Getriebene unserer Vergangenheit, sondern
aktive Gestalter unserer Zukunft.
Freiheitlicher Humanismus und humanistischer Liberalismus?
Den verschiedenen Strömungen des Humanismus ist ein
menschenfreundliches und optimistisches Menschenbild zu eigen, das davon
ausgeht, menschliches Leben verbessern zu können. Grundlage
humanistischer Konzeptionen ist ein Gesellschaftsmodell, das Menschen
die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung garantiert. Damit verbindet
sich Kritik an bestehenden politischen und sozioökonomischen
Verhältnissen, die aus humanistischer Sicht diesem Ziel entgegenstehen.
Zentraler Kernbestandteil jeder humanistischen Konzeption sind Bildung
und Aufklärung, die menschliche Emanzipation und die Entfaltung der
reifen, freien, verantwortlichen Persönlichkeit anstreben.
Der Liberalismus ist eine politische und sozialphilosophische Bewegung,
die eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung
anstrebt. Leitziel des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums
gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Machtapparaten. Neben dem
Konservatismus und dem Sozialismus wird er zu den drei großen
politischen Ideologien gezählt, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in
Europa herausgebildet haben. Die individuelle persönliche Freiheit ist
nach liberaler Überzeugung die Grundnorm einer jeden menschlichen
Gesellschaft, auf die hin Staat und Gesellschaft ihre politische,
wirtschaftliche und soziale Ordnung auszurichten haben. Dabei wird unter
Freiheit zunächst vor allem die Abwesenheit jeglicher Gewalt und jedes
Zwangs verstanden, insbesondere von staatlicher Seite. In einem engeren
Sinne liberalistischer Positionen beschränkt sich die Rolle des Staates
auf den konkreten Schutz der Freiheit der Individuen und der die
Freiheit garantierenden Rechtsordnung.
Freiheit bedeutet nach liberalem Verständnis nicht nur „Freiheit von“,
sondern vor allem auch „Freiheit zu“, also nicht nur Abwesenheit von
staatlichem und gesellschaftlichem Zwang, sondern auch die Befähigung zu
einem selbstbestimmten und würdevollen Leben in Verantwortung.
Verantwortung für sich selbst und für andere ist der Kernbestandteil
jeder liberalen Botschaft: Ohne Verantwortung ist Freiheit nicht
möglich.
Humanismus und Liberalismus, so verstanden, zielen auf dasselbe ab:
Basierend auf der Grundannahme, dass der Mensch sich in Freiheit am
besten und wirkungsvollsten zu einer verantwortlichen, reifen
Persönlichkeit entfalten kann, die der menschlichen Natur entspricht,
streben sie eine Veränderung staatlicher und gesellschaftlicher
Verhältnisse an, die dem Leben in Freiheit, Verantwortung und
menschlicher Würde besser entspricht. Zentrales Element dieses
freiheitlich-humanistischen Anspruchs ist die aufklärerische Bildung.
So verstanden, ist wahrer Liberalismus immer humanistisch geprägt,
während andererseits wahrer Humanismus immer freiheitlich geprägt ist.
Ein antihumanistischer Liberalismus ist folglich ebenso denkunmöglich,
wie ein antifreiheitlicher Humanismus. Humanismus und Liberalismus
bedingen einander. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille.
Macht es deshalb Sinn, von Freiheitlichem Humanismus zu sprechen, wenn
es einen unfreiheitlichen Humanismus eigentlich nicht gibt? Macht es
Sinn, von Humanistischem Liberalismus zu sprechen, wenn es einen
antihumanistischen Liberalismus eigentlich nicht gibt? Beide Begriffe
wirken redundant, etwa wie „Trächtige Schwangerschaft“. Sollten sie
deshalb vermieden werden?
Ich denke, sie sind solange sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht
unerhebliche Strömungen gibt, die einen Liberalismus vertreten, der
antihumanistisch geprägt ist und menschliche Würde und sozialen
Zusammenhalt nicht ausreichend respektiert. Sie sind ebenfalls solange
sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht unerhebliche Strömungen gibt,
die einen unfreiheitlichen Humanismus vertreten, der mehr auf den Staat
und das Kollektiv abzielt, als auf das Individuum, und der eher an
Gesetze und staatliche Reglementierung denkt, als an den einzelnen,
eigenverantwortlichen Bürger.
Solange es diese Positionen gibt, denke ich, kann es nicht schaden, sich
als humanistischer Liberaler zu bezeichnen und als freiheitlicher
Humanist. Selbst, wenn man das Gefühl hat, es klingt wie „eine trächtige
Schwangere“…
Die Furcht vor der Freiheit
Die Auflösung der vor-individuellen Gesellschaft und die Abschaffung
des Obrigkeitsstaates haben den Menschen ein Ausmaß an Freiheit
beschert, das jahrhundertelang völlig unvorstellbar schien und die
optimistischsten Erwartungen übertroffen hat. Mit dem Sieg über den
Nationalsozialismus und der unblutigen Revolution gegen das SED-Regime
wurden zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden und die Freiheit
erkämpft.
Doch die Menschen tun sich schwer mit der erkämpften Freiheit. Das
freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die zunehmenden
Globalisierungsprozesse haben zu massiven Unsicherheitsgefühlen,
Bindungsverlusten und Orientierungsproblemen geführt, die neue Ängste
heraufbeschwören und die Menschen zurücktreiben in scheinbar überwundene
Muster kollektiver Zwangssysteme, in Konformismus, Destruktivität und
sie sich neuen Autoritäten unterwerfen lässt.
Der Psychologe und Sozialphilosoph Erich Fromm legte 1941 eine
sozialpsychologische Studie mit dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“
vor, in der er das Hinabgleiten in das diktatorische Unrechtsregime als
eine Folge von Fluchtbewegungen analysierte, die aus zunehmender
Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst resultierten. Die
Freiheit habe dem Menschen zwar Unabhängigkeit und Rationalität
gebracht, aber auch zu massiven Überforderungen geführt. Der Mensch habe
es noch nicht vermocht, sein individuelles Selbst zu verwirklichen und
seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum
Ausdruck zu bringen. Fromm gelangte somit zu einem doppelten
Freiheitsbegriff: Freiheit von Unterdrückung müsse nicht zwangsläufig
mit einer Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben einhergehen, sondern
löse unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen antiliberale
Fluchtmechanismen aus.
Folgen der „Furcht vor der Freiheit“ können wir in unserer heutigen
Gesellschaft allgegenwärtig studieren. Die weit verbreitete Neigung zum
Konformismus, zum Abschieben von Verantwortung an den Staat und seine
Verwaltungen, das Unterwerfen unter fragwürdige Autoritäten und
kollektive Zwangssysteme, bürokratische Regeln und Gesetze haben zu
einem massiven Freiheitsverlust im persönlichen Leben und zu einer
Lähmung menschlicher Kreativität und Schaffenskraft geführt, die
Potenziale brachliegen lässt und uns damit wertvoller
Entwicklungsoptionen beraubt. Mit unserer Neigung, uns ständig unter
Nannys Schürze zu flüchten, stellen wir uns selbst zunehmend ins
Abseits.
Aus humanistischer Sicht, die den menschlichen Anspruch auf
selbstbestimmte Verantwortlichkeit ernst nimmt, ist gefordert, die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und ggf.
zu verändern, unter denen die Nanny-Kultur gedeiht. Wir müssen die
vorhandenen Ängste der Menschen ernstnehmen, ihre Sicherheitsbedürfnisse
respektieren und ihren Entfremdungstendenzen, Orientierungs-, Sinn- und
Bindungsverlusten durch konkrete lebensweltliche Angebote
entgegensteuern. Ziel muss es sein, eine produktive Lebenskultur zu
schaffen, indem sich im Sinne Erich Fromms eine gegen totalitäre
Fluchtmechanismen immune „Freiheit zu selbstbestimmten Leben“ dauerhaft
entwickeln kann.
Die Suche nach Sinn, Ziel und Richtung
Vor kurzem las ich in meiner persönlichen Mail folgendes:
“Du bist ständig auf Sinnsuche. Das ist typisch für Menschen die sich
mit Psychologie beschäftigen. Warum lebst Du nicht einfach. Es muss doch
nicht in allem ein Sinn stecken. Hauptsache ist doch man macht es
gerne, wenn nicht, lässt man es halt. Und um existentielle Dinge kommt
man nicht drum herum, auch wenn sie vielleicht in Deinen Augen keinen
Sinn haben. Glaub mir, ohne ständige Sinnsuche ist das Leben einfacher.
Liebe, lache, weine ohne Sinn!“
Einige Wochen vorher sprach ich mit einer sehr gläubigen Protestantin
über Sinn, Ziel und Richtung des Lebens. Sie sagte, sie müsse über all
dies nicht nachdenken. Der Sinn ihres Lebens sei Gott. Das Ziel ihres
Lebens sei Gott. Die Richtung ihres Lebens sei Gott.
Und dann höre ich häufig von atheistischer Seite, Sinnsuche sei ein
mystisches, pseudoreligiöses Unterfangen, das der rational denkende
Mensch tunlichst vermeiden solle. Es gebe keinen Sinn im Leben. Unsere
Existenz sei völlig absurd und sinnlos.
Ich teile diese Auffassungen nicht. Für eine psychisch gesunde
Entwicklung einer reifen, erfüllten Persönlichkeit bedarf es einer
Sinngebung, eines Lebenszieles und einer Lebensrichtung. Und Sinn, Ziel
und Richtung sollten nicht verbindlich von außen vorgegeben sein,
sondern müssen aus uns selbst kommen. Wir selbst bestimmen unseren Weg,
aber damit wir uns nicht verirren in Beliebigkeit und abgleiten in
Zynismus, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, brauchen wir diesen Halt,
dieses Geländer. Dieses Geländer mag Gott sein. Im völligen
Gottvertrauen zu leben, macht das Leben einfacher, weil ich nicht fragen
muss, nicht hinterfragen muss, nicht suchen muss.
Der freie Mensch entscheidet sich für den schwierigeren Weg der Suche,
aber gegen die Beliebigkeit und den Zynismus. Wir wachsen mit einer
Aufgabe, der wir uns verschreiben, in deren Dienst wir uns stellen. Sie
gibt unserem Leben Sinn, Ziel und Richtung. Sie verleiht unserem Leben
Halt, Orientierung und Perspektive. Doch der gewählte Weg ist nie
endgültig, die gewählte Aufgabe nie erfüllt. Ständig müssen wir uns neu
fragen und hinterfragen. Ständig neu suchen. Die Suche nach dem
Lebenssinn bleibt unsere Lebensaufgabe und der Weg dorthin unser Ziel.
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