Freitag, 16. Oktober 2015

Sozialmilieus, Wählervielfalt und die FDP?



Welchen Wähler will die neue FDP eigentlich wie ansprechen? Wenn man Verlautbarungen der Parteispitze oder Einlassungen in der Programmdebatte verfolgt, gewinnt man den Eindruck, es gäbe so etwas wie den typischen Wähler, den man in standardisierter Form ansprechen könne. Dieser typisierte Wähler ist allerdings eine Fiktion – sowohl in psychologischer, als auch in soziologischer Hinsicht.

Psychologie wie Soziologie lassen keinen Zweifel daran, dass Menschen - und damit Wähler – ausgesprochen unterschiedlich sind. Diese Unterschiedlichkeit wird aber meiner Meinung nach in unseren parteistrategischen Überlegungen viel zu wenig reflektiert. Wir sollten uns verabschieden vom „Wähler“ und uns stattdessen „DEN Wählern“ in ihrer ganzen Vielfalt zuwenden.
Die soziologische Vielfalt wird in Sozialstrukturanalysen untersucht. Früher wurden Menschen einer Gesellschaft zunächst Klassen und später Schichten zugeordnet. Heute unterscheidet man „soziale Lagen“, Grundorientierungen von Menschen und soziale Milieus.
So können wir heute innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft elf Milieus unterscheiden (nach SINUS-Institut 2014, von mir verändert):

1.Ausgegrenzte: Personen ohne oder mit rudimentärer Einbindung in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, häufig ohne feste Wohnung und gesundheitliche Versorgung.

2.Prekäre: Um Orientierung und Teilhabe bemühte Personen mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments, bemüht, Anschluss zu halten, mit reaktiv-delegativer Grundhaltung und sozialen Rückzugstendenzen.

3.Traditionelle: Die Sicherheit und Ordnung liebende untere Mittelschicht – in der alten kleinbürgerlichen Welt oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet.

4.Hedonisten: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne untere Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.

5.Bürgerliche Mitte: Der leistungs- und angepasste bürgerliche Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen.

6.Adaptiv-Pragmatische: Die moderne junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül – zielstrebig und kompromissbereit, konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit.

7.Sozialökologische: Idealistisches konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom „richtigen Leben“ – ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen, Globalisierungsskeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity.

8.Expeditive: Die ambitionierte, kreative Avantgarde – unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt, grenz- und lösungsorientiert.

9.Liberal-Intellektuelle: Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem Leben, vielfältige intellektuelle Interessen.

10.Performer: Die multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite mit globalökologischem Denken, Selbstbild als Konsum- und Stilavantgarde, hohe IT- und Medienkompetenz.

11.Konservativ-Etablierte: Das klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik, Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und Abgrenzung,
Statusorientierung und Standesbewusstsein.

Diesen elf Sozialmilieus können verschiedene Grundorientierungen zugeordnet werden: Bekommen, Haben, Genießen, Werden, Sein, Festhalten, Bewahren, Verändern, Machen, Erleben, Denken, Interagieren, Grenzen überwinden, Beschleunigung, Verlangsamung, Exploration, Selbstfindung, Ruhe.

In Bezug auf diese Grundorientierungen stellt sich die Frage: Welchen fühlt sich die FDP verpflichtet? Welche will sie in besonderer Weise bedienen? Gibt es welche, denen sie eher fernsteht?
In Bezug auf die elf Sozialmilieus muss man fragen: An potenzielle Wähler aus welchen dieser Sozialmilieus wendet sich die FDP? An alle – oder sind bestimmte Milieus vernachlässigbar, weil aus ihnen ohnehin kaum Wähler zu erwarten sind, etwa die Unterschichtmilieus der „Ausgegrenzten“ und „Prekären“, oder der „Traditionellen“ und der „Bürgerlichen Mitte“, die eher den Volksparteien oder der „Sozialökologischen“, die eher den Grünen nahestehen?
Falls alle gemeint sind, werden auch alle in gleicher Intensität angesprochen oder gibt es Zielgruppen, die mit bestimmten Milieus weitgehend deckungsgleich sind?
Und schließlich, wenn man Klarheit hat, welche Milieus man in welcher Intensität ansprechen will, stellt sich die Frage: Wie will man diese Gruppen ansprechen? Es ist wohl offensichtlich, dass man nicht alle Milieus in gleicher Weise ansprechen kann – dafür sind sie zu unterschiedlich. Im Prinzip wäre zu fordern, für jedes Milieu, das man ansprechen möchte (und das wären im Idealfall alle) eine eigene Ansprachestrategie zu entwickeln – nur so wäre eine zielgruppenadäquate und effektiv-effiziente Ansprache gewährleistet.

Mein Eindruck ist, dass Teile dieser Entscheidungsfragen durchaus vorbeantwortet sind, allerdings nicht hinlänglich reflektiert und sowohl innerhalb der Parteigremien und gegenüber der parteinahen Öffentlichkeit nicht (ausreichend) kommuniziert.
So sehe ich gewisse Präferenzen hinsichtlich der Grundorientierungen:
Materiell konsumorientiert statt postmateriell lebensorientiert. Beschleunigung statt Entschleunigung. Verändern statt Bewahren. Mehr bekommen statt Genießen. Interaktion statt Selbstfindung.
Man gewinnt den Eindruck, dass insbesondere Vertreter postmaterieller und hedonistischer, aber auch konservativer Werte bislang nicht effektiv angesprochen werden. Dies mag an einer (Über)betonung der Werte "Leistung" und "Fortschritt" liegen.
Meiner Meinung nach sprach - und spricht – die FDP deutlich bevorzugt Wähler aus den fünf gehobenen Milieus an, insbesondere die „Liberalen Intellektuellen“, die „Performer“ und die „Expeditiven“, deutlich weniger die „Konservativ Etablierten“ (CDU/CSU-Klientel) und die „Sozialökologischen“ (Grünen-Klientel). Die Milieus der mittleren und der Unteren Mittelschicht („Adaptiv-Pragmatische“, „Bürgerliche Mitte“, „Traditionelle“ und „Hedonisten“ ) werden sehr viel weniger angesprochen und zudem zielgruppeninadäquat. Bisher gelingt es nur mangelhaft, diese Gruppen zu erreichen. Noch viel weniger trifft das auf die Milieus der Unterschicht, die „Prekären“ und die „Ausgegrenzten“ zu. Man gewinnt den Eindruck, dass dieses Segment bisher nicht, bzw. völlig inadäquat bearbeitet wird.

Fazit:
Wir sollten Klarheit darüber gewinnen, wer unser potenzieller Wähler ist und wer er nicht ist. Vielleicht macht es Sinn, sich auf bestimmte Milieus zu konzentrieren und andere zu vernachlässigen. Andererseits stünde es unserem liberaldemokratischen Anspruch gut zu Gesicht, eine wirksame Kommunikation mit allen Gruppen der Gesellschaft zu entwickeln. Wichtig erscheint mir in jedem Fall, dass diese Entscheidungen gut reflektiert getroffen und transparent kommuniziert werden. Darüber hinaus sind dann zielgruppenadäquate Ansprachestrategien für diese Milieus zu entwickeln.
DEN potenziellen FDP-Wähler gibt es nicht. Wir sollten ihn zu Grabe tragen!

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