Freitag, 9. Oktober 2015

Die Rückeroberung des Begriffs der Freiheit




Man begegnet dieser offensichtlich weit verbreiteten Volksmeinung immer wieder: Die „Alternative für Deutschland“ vertrete so etwas wie den eigentlichen, wahren Liberalismus, wertverbunden und prinzipienorientiert. Die FDP sei hingegen eine identitätslose Softcoreversion des Liberalismus, anfällig gegenüber schädlichen Tendenzen des politischen Mainstream und monetären Verlockungen und deshalb letztlich verzichtbar. Wie kann es eigentlich sein, dass eine Partei wie die „AfD“, die offensichtlich so gar nichts mit freiheitlichem Denken zu tun hat, die auf engste mit nationalchauvinistischen und ressentimentgesteuerten Wut- und Angstbürgerbewegungen wie Pegida verknüpft ist, von so vielen Menschen immer noch für den Gralshüter des Liberalismus gehalten wird? Wie kann es sein, dass sich im liberalen Umfeld, bei der Hayek-Gesellschaft etwa, in freiheitlichen Blogs, Thinktanks und Netzwerken Denkende und Schreibende über den Umgang mit fragwürdigen Kräften zerstreiten und an der Frage verzweifeln, wo genau die Grenzen der liberalen Familie zu ziehen sind? Ohne diese Fragen auf Anhieb beantworten zu können, ist eines offensichtlich klar: Dass wir es bei soviel Orientierungslosigkeit mit einer Diffusion des Liberalismusbegriffs und mit einer Identitätsstörung des politischen Liberalismus zu tun haben.

Früher war die politische Orientierung doch einfach und klar: Es gab das freiheitliche bürgerliche Lager, modernistisch geprägt, marktwirtschaftlich orientiert und demokratisch verwurzelt – und es gab die politische Rechte, faschistoid ausgerichtet und staatsfixiert denkend. Zwischen beiden lag kaum etwas, es gab wenig, das sie verband und unendlich viel, das sie trennte. Heute sind die Konturen aufgeweicht, diffus verschwommen. Es gibt nicht wenige nationalchauvinistische Reaktionäre, die sich zum freien Unternehmertum bekennen und marktwirtschaftlich geben. Andere selbsterklärte „Liberale“ bekämpfen auf aggressive Art die offene Gesellschaft und stellen die Ideen der Aufklärung und Werte wie Toleranz und Vielfalt offen in Frage. Wo es früher eine deutliche Abgrenzung von Kulturen und Sprache gab, finden wir heute zunehmend eine Vermischung: Nationalchauvinistisches, völkisch geprägtes Gedankengut und menschenverachtend - zynische Sprache dringen immer weiter in die bürgerliche Gesellschaft vor und verändern das kollektive Bewusstsein. Hemmungen schwinden, die offene Gesellschaft gerät in Rückzugsgefechte mit der immer offensiver vorgetragenen Gegenoffensive. Diese Bedrohung von Rechts ist anders als früher deshalb so gefährlich, weil sie den freiheitlichen Habitus imitiert und sich unserer Kulturformen und Begriffe bedient. Die neue Gefahr von Rechts kommt heute mitten aus dem bürgerlich-freiheitlichen Lager. Es scheint so, als habe ein Wirkstoff seine chemische Struktur verändert und sei heute, anders als früher, in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und auf das Gehirn unmittelbar einzuwirken.

Wir erleben gegenwärtig einen inflationären Gebrauch der freiheitlichen Begriffe. Von rechts bis grün bezeichnet man sich als "liberal". Liberalsein ist offensichtlich "in", entspricht dem Zeitgeschmack. Dass große Unklarheit darüber besteht, was der Modebegriff eigentlich genau bedeuten soll, stört offenbar wenig. Eine besondere Rolle spielt die Usurpation des zentralsten Begriffes des Liberalismus überhaupt: Dem der Freiheit. Der Freiheitsbegriff ist heute völlig diffus und kann mit völlig austauschbaren Inhalten gefüllt werden. In Österreich kommt die „Freiheitliche“ Partei mit rassistischen Parolen und antipluralistischen, intoleranten Konzepten daher. Internetportale, die sich in ihren Kolumnen gegen die offene Gesellschaft und aufklärerische Ideen von Toleranz und Vielfalt richten, bedienen sich der freiheitlichen Metaphorik. Für den naiven Leser ist heute überhaupt nicht mehr klar, für was zentrale Begriffe des politischen Liberalismus stehen und – schlimmer noch – für was sie nicht stehen.

Mindestens ebenso negativ wirkt sich aus, dass es den neurechten Demagogen gelungen ist, zentrale Werte für sich zu besetzen. Der „AfD“-Politiker Alexander Gauland etwa schrieb: “Wir werden es künftig mit zwei kulturellen Milieus zu tun haben, einem liberal individualistischen, das sich für Zuwanderung, die Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften und jede Art von Selbstverwirklichung stark macht, und einem wertkonservativen, das auf einer verbindlichen Identität aus moralischen Prinzipien und abendländischen Traditionen besteht und wirtschaftlichen Notwendigkeiten wie wirtschaftlichen Erfolgen eher skeptisch gegenübersteht, also nicht mehr das bürgerliche Lager gegen die Sozialdemokratie, sondern Konservative versus Liberale in allen Parteien.“ Anders als andere schmückt sich Gauland nicht mit dem Liberalismus-Begriff, sondern grenzt sich davon ab, indem einen Hiatus zwischen „wertgebundenen Konservativen“ und „wertfreien Liberalen“ generiert. In jedem Fall besteht ein Hegemonieanspruch der Neurechten auf Wert und Moral: Das wertgebundene, moralische Milieu, so die Erzählung, stehe für Heimat, Tradition, Religion, für das Gute eben. Die offene Gesellschaft und ihre Protagonisten hingegen stehen für Bindungsverlust, Entfremdung, Degeneration.

Unschuldig sind wir Liberale nicht daran, dass diese Umdeutungen und Usurpationen gelingen konnten. Bedürfnisse und Ängste von Menschen wurden zu wenig reflektiert. Zu wenig beachtet, dass Menschen Bindung brauchen und Veränderung verarbeitet werden muss, dass zuviel Veränderung in zu kurzer Zeit Menschen überfordern kann. Ebenso wurde viel zu wenig die Werthaftigkeit und Wertgebundenheit von Liberalismus kommuniziert. Liberalismus bedeutet eben nicht Werterelativismus, auch nicht blinden Progressivismus. Freiheit bedeutet eben nicht Wertfreiheit, nicht Ungebundenheit und Bindungslosigkeit, nicht Isolationismus. Freiheit, wie Liberale diesen Begriff verstehen, bedeutet Freiheit in Verantwortung und Offenheit auf der Grundlage ganz entschiedener Wertebindung.

Wie können wir der Begriffsverunklärung und dem Hegemonieanspruch der Neurechten auf Werte und Moral entgegenwirken? Es geht um nicht weniger als die Ehrenrettung des Liberalismus in dieser Zeit. Um die Rückeroberung unseres Terrains, die Rückeroberung unserer Begriffe. Liberalismus ist mehr, viel mehr, als nur ein Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wer antiwestliche Positionen vertritt und Sympathien für Putins Staatsmodell hegt, kann kein Liberaler sein. Wer christlichem Fundamentalismus huldigt oder ein archaisches, frauenfeindliches Familienmodell vertritt, kann kein Liberaler sein. Wer fremdenfeindlichen Ressentiments und Vorstellungen einer national geprägten Volksgemeinschaft anhängt, kann kein Liberaler sein. Auch dann nicht, wenn er, wie FPÖ-Politiker dies gerne tun, auf die enge Verbindung von nationalem und freiheitlichem Lager im deutschen Vormärz, also der Zeit zwischen 1830 und 45, verweist. In der Frühphase der Entwicklung unseres Parteiensystems gab es auch enge Verbindungen zwischen liberalen und radikaldemokratischen Kräften, aus denen später Stalinisten und SED-Sozialisten hervorgegangen sind. Gemeinsame Herkunft kann nicht bedeuten, dass später nach völliger Auseinanderentwicklung nicht eine radikale Abgrenzung erforderlich ist.

Die klare Polarisierung, die unser Land in der Flüchtlingsfrage erlebt, bietet die Chance, die Grenzen wieder neu zu ziehen und in der Zukunft besser zu verteidigen. In dieser Frage ist unsere Gesellschaft tief gespalten: Die Anderen stehen für nationalchauvinistische Ressentiments, für Abgrenzung, für Abschiebung, für Fremdenangst und Zukunftsangst, für Unmenschlichkeit gegenüber Menschen in Not. Das freiheitliche Bürgertum – und zwar gleichermaßen die, die sich eher im klassischen Sinn als Liberale und die, die sich eher als freiheitliche Wertkonservative bezeichnen – stehen für Mitmenschlichkeit, für Integration, für Offenheit und Optimismus trotz Wagnis. Das freiheitliche Bürgertum steht für „German Mut“, ist bereit, für seine Überzeugungen Opfer zu bringen und viel zu riskieren. Liberalismus ist zutiefst von Menschenfreundlichkeit und Menschlichkeit geprägt, von Optimismus und einem positiven Menschenbild. Das unterscheidet uns fundamental von den selbsternannten Pseudoliberalen und Moralaposteln, die sich im Umfeld der „AfD“ als besorgte Bürger tummeln.

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