Man begegnet dieser offensichtlich weit verbreiteten Volksmeinung immer wieder: Die „Alternative für Deutschland“ vertrete so etwas wie den eigentlichen, wahren Liberalismus, wertverbunden und prinzipienorientiert. Die FDP sei hingegen eine identitätslose Softcoreversion des Liberalismus, anfällig gegenüber schädlichen Tendenzen des politischen Mainstream und monetären Verlockungen und deshalb letztlich verzichtbar. Wie kann es eigentlich sein, dass eine Partei wie die „AfD“, die offensichtlich so gar nichts mit freiheitlichem Denken zu tun hat, die auf engste mit nationalchauvinistischen und ressentimentgesteuerten Wut- und Angstbürgerbewegungen wie Pegida verknüpft ist, von so vielen Menschen immer noch für den Gralshüter des Liberalismus gehalten wird? Wie kann es sein, dass sich im liberalen Umfeld, bei der Hayek-Gesellschaft etwa, in freiheitlichen Blogs, Thinktanks und Netzwerken Denkende und Schreibende über den Umgang mit fragwürdigen Kräften zerstreiten und an der Frage verzweifeln, wo genau die Grenzen der liberalen Familie zu ziehen sind? Ohne diese Fragen auf Anhieb beantworten zu können, ist eines offensichtlich klar: Dass wir es bei soviel Orientierungslosigkeit mit einer Diffusion des Liberalismusbegriffs und mit einer Identitätsstörung des politischen Liberalismus zu tun haben.
Früher war die
politische Orientierung doch einfach und klar: Es gab das
freiheitliche bürgerliche Lager, modernistisch geprägt,
marktwirtschaftlich orientiert und demokratisch verwurzelt – und es
gab die politische Rechte, faschistoid ausgerichtet und staatsfixiert
denkend. Zwischen beiden lag kaum etwas, es gab wenig, das sie
verband und unendlich viel, das sie trennte. Heute sind die Konturen
aufgeweicht, diffus verschwommen. Es gibt nicht wenige
nationalchauvinistische Reaktionäre, die sich zum freien
Unternehmertum bekennen und marktwirtschaftlich geben. Andere
selbsterklärte „Liberale“ bekämpfen auf aggressive Art die
offene Gesellschaft und stellen die Ideen der Aufklärung und Werte
wie Toleranz und Vielfalt offen in Frage. Wo es früher eine
deutliche Abgrenzung von Kulturen und Sprache gab, finden wir heute
zunehmend eine Vermischung: Nationalchauvinistisches, völkisch
geprägtes Gedankengut und menschenverachtend - zynische Sprache
dringen immer weiter in die bürgerliche Gesellschaft vor und
verändern das kollektive Bewusstsein. Hemmungen schwinden, die
offene Gesellschaft gerät in Rückzugsgefechte mit der immer
offensiver vorgetragenen Gegenoffensive. Diese Bedrohung von Rechts
ist anders als früher deshalb so gefährlich, weil sie den
freiheitlichen Habitus imitiert und sich unserer Kulturformen und
Begriffe bedient. Die neue Gefahr von Rechts kommt heute mitten aus
dem bürgerlich-freiheitlichen Lager. Es scheint so, als habe ein
Wirkstoff seine chemische Struktur verändert und sei heute, anders
als früher, in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und
auf das Gehirn unmittelbar einzuwirken.
Wir erleben gegenwärtig einen inflationären Gebrauch der freiheitlichen Begriffe. Von rechts bis grün bezeichnet man sich als "liberal". Liberalsein ist offensichtlich "in", entspricht dem Zeitgeschmack. Dass große Unklarheit darüber besteht, was der Modebegriff eigentlich genau bedeuten soll, stört offenbar wenig. Eine besondere Rolle spielt die Usurpation des zentralsten Begriffes des
Liberalismus überhaupt: Dem der Freiheit. Der Freiheitsbegriff ist
heute völlig diffus und kann mit völlig austauschbaren Inhalten
gefüllt werden. In Österreich kommt die „Freiheitliche“ Partei
mit rassistischen Parolen und antipluralistischen, intoleranten
Konzepten daher. Internetportale, die sich in ihren Kolumnen gegen
die offene Gesellschaft und aufklärerische Ideen von Toleranz und
Vielfalt richten, bedienen sich der freiheitlichen Metaphorik. Für
den naiven Leser ist heute überhaupt nicht mehr klar, für was
zentrale Begriffe des politischen Liberalismus stehen und –
schlimmer noch – für was sie nicht stehen.
Mindestens ebenso
negativ wirkt sich aus, dass es den neurechten Demagogen gelungen
ist, zentrale Werte für sich zu besetzen. Der „AfD“-Politiker
Alexander Gauland etwa schrieb: “Wir werden es künftig mit zwei
kulturellen Milieus zu tun haben, einem liberal individualistischen,
das sich für Zuwanderung, die Anerkennung von homosexuellen
Lebensgemeinschaften und jede Art von Selbstverwirklichung stark
macht, und einem wertkonservativen, das auf einer verbindlichen
Identität aus moralischen Prinzipien und abendländischen
Traditionen besteht und wirtschaftlichen Notwendigkeiten wie
wirtschaftlichen Erfolgen eher skeptisch gegenübersteht, also nicht
mehr das bürgerliche Lager gegen die Sozialdemokratie, sondern
Konservative versus Liberale in allen Parteien.“ Anders als andere
schmückt sich Gauland nicht mit dem Liberalismus-Begriff, sondern
grenzt sich davon ab, indem einen Hiatus zwischen „wertgebundenen
Konservativen“ und „wertfreien Liberalen“ generiert. In jedem
Fall besteht ein Hegemonieanspruch der Neurechten auf Wert und Moral:
Das wertgebundene, moralische Milieu, so die Erzählung, stehe für
Heimat, Tradition, Religion, für das Gute eben. Die offene
Gesellschaft und ihre Protagonisten hingegen stehen für
Bindungsverlust, Entfremdung, Degeneration.
Unschuldig sind wir
Liberale nicht daran, dass diese Umdeutungen und Usurpationen
gelingen konnten. Bedürfnisse und Ängste von Menschen wurden zu
wenig reflektiert. Zu wenig beachtet, dass Menschen Bindung brauchen
und Veränderung verarbeitet werden muss, dass zuviel Veränderung in
zu kurzer Zeit Menschen überfordern kann. Ebenso wurde viel zu wenig
die Werthaftigkeit und Wertgebundenheit von Liberalismus
kommuniziert. Liberalismus bedeutet eben nicht Werterelativismus,
auch nicht blinden Progressivismus. Freiheit bedeutet eben nicht
Wertfreiheit, nicht Ungebundenheit und Bindungslosigkeit, nicht
Isolationismus. Freiheit, wie Liberale diesen Begriff verstehen,
bedeutet Freiheit in Verantwortung und Offenheit auf der Grundlage
ganz entschiedener Wertebindung.
Wie können wir der
Begriffsverunklärung und dem Hegemonieanspruch der Neurechten auf
Werte und Moral entgegenwirken? Es geht um nicht weniger als die
Ehrenrettung des Liberalismus in dieser Zeit. Um die Rückeroberung
unseres Terrains, die Rückeroberung unserer Begriffe. Liberalismus
ist mehr, viel mehr, als nur ein Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen
Prinzipien. Wer antiwestliche Positionen vertritt und Sympathien für
Putins Staatsmodell hegt, kann kein Liberaler sein. Wer christlichem
Fundamentalismus huldigt oder ein archaisches, frauenfeindliches
Familienmodell vertritt, kann kein Liberaler sein. Wer
fremdenfeindlichen Ressentiments und Vorstellungen einer national
geprägten Volksgemeinschaft anhängt, kann kein Liberaler sein. Auch
dann nicht, wenn er, wie FPÖ-Politiker dies gerne tun, auf die enge
Verbindung von nationalem und freiheitlichem Lager im deutschen
Vormärz, also der Zeit zwischen 1830 und 45, verweist. In der
Frühphase der Entwicklung unseres Parteiensystems gab es auch enge
Verbindungen zwischen liberalen und radikaldemokratischen Kräften,
aus denen später Stalinisten und SED-Sozialisten hervorgegangen
sind. Gemeinsame Herkunft kann nicht bedeuten, dass später nach
völliger Auseinanderentwicklung nicht eine radikale Abgrenzung
erforderlich ist.
Die klare
Polarisierung, die unser Land in der Flüchtlingsfrage erlebt, bietet
die Chance, die Grenzen wieder neu zu ziehen und in der Zukunft
besser zu verteidigen. In dieser Frage ist unsere Gesellschaft tief
gespalten: Die Anderen stehen für nationalchauvinistische
Ressentiments, für Abgrenzung, für Abschiebung, für Fremdenangst
und Zukunftsangst, für Unmenschlichkeit gegenüber Menschen in Not.
Das freiheitliche Bürgertum – und zwar gleichermaßen die, die
sich eher im klassischen Sinn als Liberale und die, die sich eher
als freiheitliche Wertkonservative bezeichnen – stehen für
Mitmenschlichkeit, für Integration, für Offenheit und Optimismus
trotz Wagnis. Das freiheitliche Bürgertum steht für „German Mut“,
ist bereit, für seine Überzeugungen Opfer zu bringen und viel zu
riskieren. Liberalismus ist zutiefst von Menschenfreundlichkeit und
Menschlichkeit geprägt, von Optimismus und einem positiven
Menschenbild. Das unterscheidet uns fundamental von den
selbsternannten Pseudoliberalen und Moralaposteln, die sich im Umfeld
der „AfD“ als besorgte Bürger tummeln.
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