Welchen Wähler will
die neue FDP eigentlich wie ansprechen? Wenn man Verlautbarungen der
Parteispitze oder Einlassungen in der Programmdebatte verfolgt, gewinnt
man den Eindruck, es gäbe so etwas wie den typischen Wähler, den man in
standardisierter Form ansprechen könne. Dieser typisierte Wähler ist
allerdings eine Fiktion – sowohl in psychologischer, als auch in
soziologischer Hinsicht.
Psychologie wie Soziologie lassen keinen
Zweifel daran, dass Menschen - und damit Wähler – ausgesprochen
unterschiedlich sind. Diese Unterschiedlichkeit wird aber meiner Meinung
nach in unseren parteistrategischen Überlegungen viel zu wenig
reflektiert. Wir sollten uns verabschieden vom „Wähler“ und uns
stattdessen „DEN Wählern“ in ihrer ganzen Vielfalt zuwenden.
Die
soziologische Vielfalt wird in Sozialstrukturanalysen untersucht. Früher
wurden Menschen einer Gesellschaft zunächst Klassen und später
Schichten zugeordnet. Heute unterscheidet man „soziale Lagen“,
Grundorientierungen von Menschen und soziale Milieus.
So können wir
heute innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft elf Milieus
unterscheiden (nach SINUS-Institut 2014, von mir verändert):
1.Ausgegrenzte: Personen ohne oder mit rudimentärer Einbindung in
gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, häufig ohne feste Wohnung und
gesundheitliche Versorgung.
2.Prekäre: Um Orientierung und
Teilhabe bemühte Personen mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments,
bemüht, Anschluss zu halten, mit reaktiv-delegativer Grundhaltung und
sozialen Rückzugstendenzen.
3.Traditionelle: Die Sicherheit und
Ordnung liebende untere Mittelschicht – in der alten kleinbürgerlichen
Welt oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet.
4.Hedonisten: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne untere
Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen
und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.
5.Bürgerliche Mitte: Der leistungs- und angepasste bürgerliche
Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben
nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und
harmonischen Verhältnissen.
6.Adaptiv-Pragmatische: Die moderne
junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und
Nutzenkalkül – zielstrebig und kompromissbereit, konventionell, flexibel
und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und
Zugehörigkeit.
7.Sozialökologische: Idealistisches
konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom
„richtigen Leben“ – ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen,
Globalisierungsskeptiker, Bannerträger von Political Correctness und
Diversity.
8.Expeditive: Die ambitionierte, kreative Avantgarde –
unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil,
online und offline vernetzt, grenz- und lösungsorientiert.
9.Liberal-Intellektuelle: Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler
Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem
Leben, vielfältige intellektuelle Interessen.
10.Performer: Die
multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite mit
globalökologischem Denken, Selbstbild als Konsum- und Stilavantgarde,
hohe IT- und Medienkompetenz.
11.Konservativ-Etablierte: Das
klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik,
Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und
Abgrenzung,
Statusorientierung und Standesbewusstsein.
Diesen elf
Sozialmilieus können verschiedene Grundorientierungen zugeordnet
werden: Bekommen, Haben, Genießen, Werden, Sein, Festhalten, Bewahren,
Verändern, Machen, Erleben, Denken, Interagieren, Grenzen überwinden,
Beschleunigung, Verlangsamung, Exploration, Selbstfindung, Ruhe.
In Bezug auf diese Grundorientierungen stellt sich die Frage: Welchen
fühlt sich die FDP verpflichtet? Welche will sie in besonderer Weise
bedienen? Gibt es welche, denen sie eher fernsteht?
In Bezug auf
die elf Sozialmilieus muss man fragen: An potenzielle Wähler aus welchen
dieser Sozialmilieus wendet sich die FDP? An alle – oder sind bestimmte
Milieus vernachlässigbar, weil aus ihnen ohnehin kaum Wähler zu
erwarten sind, etwa die Unterschichtmilieus der „Ausgegrenzten“ und
„Prekären“, oder der „Traditionellen“ und der „Bürgerlichen Mitte“, die
eher den Volksparteien oder der „Sozialökologischen“, die eher den
Grünen nahestehen?
Falls alle gemeint sind, werden auch alle in
gleicher Intensität angesprochen oder gibt es Zielgruppen, die mit
bestimmten Milieus weitgehend deckungsgleich sind?
Und schließlich,
wenn man Klarheit hat, welche Milieus man in welcher Intensität
ansprechen will, stellt sich die Frage: Wie will man diese Gruppen
ansprechen? Es ist wohl offensichtlich, dass man nicht alle Milieus in
gleicher Weise ansprechen kann – dafür sind sie zu unterschiedlich. Im
Prinzip wäre zu fordern, für jedes Milieu, das man ansprechen möchte
(und das wären im Idealfall alle) eine eigene Ansprachestrategie zu
entwickeln – nur so wäre eine zielgruppenadäquate und
effektiv-effiziente Ansprache gewährleistet.
Mein Eindruck ist,
dass Teile dieser Entscheidungsfragen durchaus vorbeantwortet sind,
allerdings nicht hinlänglich reflektiert und sowohl innerhalb der
Parteigremien und gegenüber der parteinahen Öffentlichkeit nicht
(ausreichend) kommuniziert.
So sehe ich gewisse Präferenzen hinsichtlich der Grundorientierungen:
Materiell konsumorientiert statt postmateriell lebensorientiert.
Beschleunigung statt Entschleunigung. Verändern statt Bewahren. Mehr
bekommen statt Genießen. Interaktion statt Selbstfindung.
Man
gewinnt den Eindruck, dass insbesondere Vertreter postmaterieller und
hedonistischer, aber auch konservativer Werte bislang nicht effektiv
angesprochen werden. Dies mag an einer (Über)betonung der Werte
"Leistung" und "Fortschritt" liegen.
Meiner Meinung nach sprach -
und spricht – die FDP deutlich bevorzugt Wähler aus den fünf gehobenen
Milieus an, insbesondere die „Liberalen Intellektuellen“, die
„Performer“ und die „Expeditiven“, deutlich weniger die „Konservativ
Etablierten“ (CDU/CSU-Klientel) und die „Sozialökologischen“
(Grünen-Klientel). Die Milieus der mittleren und der Unteren
Mittelschicht („Adaptiv-Pragmatische“, „Bürgerliche Mitte“,
„Traditionelle“ und „Hedonisten“ ) werden sehr viel weniger angesprochen
und zudem zielgruppeninadäquat. Bisher gelingt es nur mangelhaft, diese
Gruppen zu erreichen. Noch viel weniger trifft das auf die Milieus der
Unterschicht, die „Prekären“ und die „Ausgegrenzten“ zu. Man gewinnt den
Eindruck, dass dieses Segment bisher nicht, bzw. völlig inadäquat
bearbeitet wird.
Fazit:
Wir sollten Klarheit darüber
gewinnen, wer unser potenzieller Wähler ist und wer er nicht ist.
Vielleicht macht es Sinn, sich auf bestimmte Milieus zu konzentrieren
und andere zu vernachlässigen. Andererseits stünde es unserem
liberaldemokratischen Anspruch gut zu Gesicht, eine wirksame
Kommunikation mit allen Gruppen der Gesellschaft zu entwickeln. Wichtig
erscheint mir in jedem Fall, dass diese Entscheidungen gut reflektiert
getroffen und transparent kommuniziert werden. Darüber hinaus sind dann
zielgruppenadäquate Ansprachestrategien für diese Milieus zu entwickeln.
DEN potenziellen FDP-Wähler gibt es nicht. Wir sollten ihn zu Grabe tragen!