Mittwoch, 28. Oktober 2015

Aktiv gegen sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften!


Das Thema sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften gehört endlich auf die Agenda. Ganz offensichtlich werden Fälle von Vergewaltigung aus Angst, Scham und Unsicherheit der Frauen (zum geringen Teil auch Männer) gar nicht erst gemeldet. Werden sie gemeldet, wird vertuscht und die Öffentlichkeit falsch informiert. Typisch scheint ein Fall aus Herford, bei dem es in der Pressemitteilung der Polizei heißt: „In der Nacht zu Sonntag, gegen 01:30 Uhr, wurde eine Mitarbeiterin einer karitativen Einrichtung in einer Unterkunft für jugendliche Flüchtlinge in Herford von einem 15-jährigen Bewohner sexuell bedrängt. Die junge Frau setzte sich erfolgreich zur Wehr und verständigte die Polizei.“ Es gibt aber jetzt Hinweise, wonach die Sozialarbeiterin des Roten Kreuzes in einer ehemaligen Kaserne in Herford von einem 15jährigen Iraker vollendet vergewaltigt und noch in der Nacht in die Notaufnahme des Krankenhauses von Bad Oeynhausen gebracht wurde. Bewusste Falschmeldung und Bagatellisierung dieser Art scheint Strategie zu sein. Sie geschieht aus durchaus verständlichen und wohlmeinenden Motiven: Um die Stimmung gegen Flüchtlinge nicht weiter anzuheizen. Diese Strategie hilft aber den Opfern sexueller Gewalt nicht und bekämpft nicht die Ursachen.

Es gibt einen dramatischen sexuellen Notstand in Flüchtlingsunterkünften. Bei den Flüchtlingen handelt es sich zu sehr bedeutendem Anteil um junge Männer, die keine Gelegenheit haben, ihre sexuellen Bedürfnisse legal zu befriedigen. Zudem spielen patriarchalisch-männerdominierte Verhaltensprägungen dieser Männer eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus haben Kriegs- und Fluchterfahrungen zu einer Enthemmung und Verrohung des Verhaltens geführt. All dies senkt die Hemmschwelle zu sexueller Gewalt.
Wir müssen die überwiegend - aber nicht ausschließlich – weiblichen Opfer sexueller Gewalt besser schützen. Eine separate Unterbringung von allein reisenden Frauen und wirkungsvollerer Schutz müssen möglich gemacht werden. Darüber hinaus müssen wir dringend über die Schaffung von Möglichkeiten legaler Sexualität in den Lagern nachdenken. Den Männern muss die Möglichkeit geboten werden, ihre sexuellen Bedürfnisse im Rahmen von Prostitutionsangeboten in den Erstaufnahmeeinrichtungen und in unmittelbarer Nähe von Flüchtlingsunterkünften legal zu befriedigen. Über die Finanzierung sexueller Dienstleistungen und die Logistik ist dringend nachzudenken. Zudem brauchen wir mehr Schutz für gefährdete Personen und psychologische Betreuung für die Opfer sexueller Gewalt. Wir dürfen das Problem nicht länger totschweigen, verniedlichen und damit dulden!

Samstag, 24. Oktober 2015

Kein Mitleid mit dem Agitator Pirincci!




Vor zwei Jahren sagte eine amerikanische Freundin zu mir, dass sie Deutschland vor allem deshalb bewundere, weil es im Inneren so friedvoll vereint sei. Sie bezog sich damit auf die scharfe und feindselige Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in liberaldemokratische Reformer und in das konservative Amerika, wie es am deutlichsten durch die „Tea-Party“ zum Ausdruck gebracht wird. Ein vergleichbar unüberbrückbarer Graben gebe es in Deutschland nicht, sagte sie.

Ich glaube nicht, dass sie ihre Meinung heute noch vertreten würde, angesichts der sich zunehmend feindselig gegenüberstehenden Lager in der Flüchtlingsfrage. Deutschland ist tief gespalten. Wir haben längst amerikanische Verhältnisse. Was sich hier gegenübersteht, sind längst nicht nur unterschiedliche Auffassungen in einer bedeutenden Sachfrage. Es sind unvereinbare Lebensauffassungen, andere Geisteshaltungen und Kulturen.

Wie unvereinbar sich die Auffassungen der Repräsentanten offener Willkommenskultur und jener der „besorgten Bürger“ gegenüberstehen, zeigt sich etwa am völlig anderen Umgang mit dem Toleranzbegriff. Die einen fordern Toleranz für die Hass- und Fäkalsprüche eines Akif Pirincci und beschimpfen die Distanzierung der Verlage und Buchhändler als moderne Bücherverbrennung, für uns andere liegt die Verletzung der Toleranz gerade in den feindseligen und menschenverachtenden Provokationen begründet. Dieser feindseligen Intoleranz gegenüber Menschen und ihrem Schicksal darf aus unserer Sicht kein Raum gegeben werden und muss ihrerseits konsequente Nichttoleranz und scharfe Verurteilung nach sich ziehen.

Natürlich sind die Entscheidungen der Bertelsmann-Tochter Random House und Amazons richtig und notwendig, die Bücher – und zwar alle Bücher – Pirinccis nicht mehr zu vertreiben. Was wir allenfalls zu Recht beklagen können, ist, dass erst jetzt reagiert wird, nachdem jahrelang sehr gut an den Provokationsschreibereien verdient wurde. Eine rechtzeitige Distanzierung von einem Autor, dessen Meinungen längst bekannt waren, wäre wünschenswert gewesen. Es gibt durchaus nicht selten ZUVIEL Toleranz in unserem Land – gegenüber Hass und Gewalt, gegenüber den Intoleranten.

Wir dürfen nicht zulassen, dass der „kleine Akif“ zum bemitleideten Märtyrer gemacht wird. Er ist auch, aber längst nicht nur, der Autor harmloser Katzenkrimis. Es geht niemandem darum, die Existenz dieses Autors zu vernichten, wie Pirincci jetzt wehleidig beklagt. Was wir erleben, ist keine Hetzkampagne gegen einen unbescholtenen Bürger, der es wagt, seine Meinung zu sagen. Die klare Verurteilung dieses politischen Agitators ist richtig und notwendig. Sie hat nichts mit intolerantem Totalitarismus zu tun. Sie ist keine Bücherverbrennung, die auch nur das geringste mit den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zu tun hätte. Sie richtet sich gegen die Pamphlete der Täter und ihrer Anstifter. Es darf für intolerante Hetzerei und menschenverachtende Agitation keine Toleranz und Nachsicht geben. Und für den "kleinen Akif" keinerlei Mitleid.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Fragen an Hannah Arendt

Akif Pirincci links neben Pegida-Gründer Lutz Bachmann 


Von der „Banalität des Bösen“ sprach Hannah Arendt in Bezug auf Adolf Eichmann. Was würde sie wohl zu Akif Pirincci sagen, wenn sie ihn noch erleben müsste? Die Lichtgestalt der deutschen Kulturlandschaft hat es mit unsäglichen Parolen fertiggebracht, selbst auf der gestrigen Pegida-Demonstration in Dresden ausgepfiffen zu werden und die „Rede“ abbrechen zu müssen. Das Internetportal Pirinccis „Der kleine Akif“ gehört wohl zum Bizarrsten, was man in diesem Medium finden kann. Bei manchen Beiträgen verschlägt es einem schlicht die Sprache, etwa bei „Das Mösentuch“ oder „Tanz den Joseph Goebbels“ , indem es heißt: „[...] Je mehr die rot grün versifften Polit-Steuergeldschmarotzer angesichts der Moslem-und-Afro-Invasion Morgenluft für die Verwüstung der Heimat und des Austauschs des eigenen Volkes durch Analphabeten aus Scheißhaufenistan wittern, desto stärker fühlen sie sich bei Widerstand zu Methoden ihrer Urväter genötigt, welche zu jener schönen Zeit noch die klare Luft über den KZ-Türmen inhalieren durften.[...]“
Kann man wirklich so denken, fragt man sich. Ist soviel Hass und Menschenverachtung überhaupt vorstellbar? Ist soviel Abgründiges und Unterirdisches überhaupt noch Meinung, oder destillierte Provokation ohne jeden intellektuellen Anspruch? Sind die Ergüsse Ausdruck einer Psychopathologie und Folge einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Identitätsbildung?

Vor allem aber fragt man sich, wie man selbst mit dieser Unkultur umgehen soll. Sich damit überhaupt auseinandersetzen und Pirincci damit ernstnehmen? Sich gar provozieren lassen – und ihm damit genau das geben, was er erreichen will? Oder ihn komplett ignorieren und totschweigen, weil es eigentlich nur das sein kann, was seine Ergüsse verdienen? Ist es gerechtfertigt, ihn zu pathologisieren und sogar Mitleid zu empfinden? Ist so ein Mensch eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Gesellschaft und unser politisches Gemeinwesen? Wertet man ihn nicht völlig unverdient auf, wenn man ihn zu einem Gefährder hochstilisiert? Oder muss man Menschen wie ihn doch ernstnehmen? 

Wenn wir nur Hannah Arendt befragen könnten...

Freitag, 16. Oktober 2015

Selbstbefreiung vom Sex-Zwang


„Sexout“ heißt das neue Buch des auflagenstarken Lebenskunst-Philosophen Wilhelm Schmid. Ein chic klingender neuer Begriff für ein uraltes Phänomen: Mit der sexuellen Leidenschaft wird es in aller Regel in einer Paarbeziehung ab einem gewissen Punkt schwierig. Das Interesse schwindet, die Lust versiegt, Sexualität verkommt zur quälend abgearbeiteten Pflichtübung, auf die wir irgendwann mehr oder weniger gerne verzichten. Und da wir uns in allen gesellschaftlichen Bereichen sehr gerne unter Druck setzen und fremdbestimmen lassen, wird das Natürlichste auf der Welt – das sinkende sexuelle Interesse in der Paarbeziehung – eben zum Megaproblem erklärt, dem man mit allerlei, in der Regel sehr untauglichen Mitteln und Strategien, die Schmid in seinem Buch ausführlich beschreibt, zu Leibe rücken muss. Muss man wirklich? Am Ende seines Buches bespricht Schmid die Askese, rät zu Bescheidenheit der Ansprüche und zu mehr Gelassenheit. Den Sexout nicht zu problematisieren, ist eine weise Einsicht. Es geht darum, den Druck abzubauen, unter den man sich selber setzt. Routinestrategien, die Sex nach Plan verordnen, töten die letzte noch vorhandene Lust ab. Verklemmte Versuche mit Sexspielzeug ebenso. Was hilft, ist, sich selbst zu befreien: Nicht mehr müssen müssen, nicht mehr wollen müssen. Wir brauchen dieses Problem nicht. Wir brauchen selbst den Begriff für das Problem nicht. Unsere Sexualität ist voller faszinierender Möglichkeiten, die wir nutzen können. Wir müssen uns nur treiben lassen und dem freien Spiel der Möglichkeiten hingeben, ohne zwanghaft verkopften Erwartungen zu huldigen. Nichts muss – alles kann. Die sexuelle Selbstbefreiung setzt so manches frei: Die Phantasie, das Verlangen – und die Lust.




Im Bild „Summer In The City“ (Edward Hopper, 1949)

Sozialmilieus, Wählervielfalt und die FDP?



Welchen Wähler will die neue FDP eigentlich wie ansprechen? Wenn man Verlautbarungen der Parteispitze oder Einlassungen in der Programmdebatte verfolgt, gewinnt man den Eindruck, es gäbe so etwas wie den typischen Wähler, den man in standardisierter Form ansprechen könne. Dieser typisierte Wähler ist allerdings eine Fiktion – sowohl in psychologischer, als auch in soziologischer Hinsicht.

Psychologie wie Soziologie lassen keinen Zweifel daran, dass Menschen - und damit Wähler – ausgesprochen unterschiedlich sind. Diese Unterschiedlichkeit wird aber meiner Meinung nach in unseren parteistrategischen Überlegungen viel zu wenig reflektiert. Wir sollten uns verabschieden vom „Wähler“ und uns stattdessen „DEN Wählern“ in ihrer ganzen Vielfalt zuwenden.
Die soziologische Vielfalt wird in Sozialstrukturanalysen untersucht. Früher wurden Menschen einer Gesellschaft zunächst Klassen und später Schichten zugeordnet. Heute unterscheidet man „soziale Lagen“, Grundorientierungen von Menschen und soziale Milieus.
So können wir heute innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft elf Milieus unterscheiden (nach SINUS-Institut 2014, von mir verändert):

1.Ausgegrenzte: Personen ohne oder mit rudimentärer Einbindung in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, häufig ohne feste Wohnung und gesundheitliche Versorgung.

2.Prekäre: Um Orientierung und Teilhabe bemühte Personen mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments, bemüht, Anschluss zu halten, mit reaktiv-delegativer Grundhaltung und sozialen Rückzugstendenzen.

3.Traditionelle: Die Sicherheit und Ordnung liebende untere Mittelschicht – in der alten kleinbürgerlichen Welt oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet.

4.Hedonisten: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne untere Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.

5.Bürgerliche Mitte: Der leistungs- und angepasste bürgerliche Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen.

6.Adaptiv-Pragmatische: Die moderne junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül – zielstrebig und kompromissbereit, konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit.

7.Sozialökologische: Idealistisches konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom „richtigen Leben“ – ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen, Globalisierungsskeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity.

8.Expeditive: Die ambitionierte, kreative Avantgarde – unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt, grenz- und lösungsorientiert.

9.Liberal-Intellektuelle: Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem Leben, vielfältige intellektuelle Interessen.

10.Performer: Die multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite mit globalökologischem Denken, Selbstbild als Konsum- und Stilavantgarde, hohe IT- und Medienkompetenz.

11.Konservativ-Etablierte: Das klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik, Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und Abgrenzung,
Statusorientierung und Standesbewusstsein.

Diesen elf Sozialmilieus können verschiedene Grundorientierungen zugeordnet werden: Bekommen, Haben, Genießen, Werden, Sein, Festhalten, Bewahren, Verändern, Machen, Erleben, Denken, Interagieren, Grenzen überwinden, Beschleunigung, Verlangsamung, Exploration, Selbstfindung, Ruhe.

In Bezug auf diese Grundorientierungen stellt sich die Frage: Welchen fühlt sich die FDP verpflichtet? Welche will sie in besonderer Weise bedienen? Gibt es welche, denen sie eher fernsteht?
In Bezug auf die elf Sozialmilieus muss man fragen: An potenzielle Wähler aus welchen dieser Sozialmilieus wendet sich die FDP? An alle – oder sind bestimmte Milieus vernachlässigbar, weil aus ihnen ohnehin kaum Wähler zu erwarten sind, etwa die Unterschichtmilieus der „Ausgegrenzten“ und „Prekären“, oder der „Traditionellen“ und der „Bürgerlichen Mitte“, die eher den Volksparteien oder der „Sozialökologischen“, die eher den Grünen nahestehen?
Falls alle gemeint sind, werden auch alle in gleicher Intensität angesprochen oder gibt es Zielgruppen, die mit bestimmten Milieus weitgehend deckungsgleich sind?
Und schließlich, wenn man Klarheit hat, welche Milieus man in welcher Intensität ansprechen will, stellt sich die Frage: Wie will man diese Gruppen ansprechen? Es ist wohl offensichtlich, dass man nicht alle Milieus in gleicher Weise ansprechen kann – dafür sind sie zu unterschiedlich. Im Prinzip wäre zu fordern, für jedes Milieu, das man ansprechen möchte (und das wären im Idealfall alle) eine eigene Ansprachestrategie zu entwickeln – nur so wäre eine zielgruppenadäquate und effektiv-effiziente Ansprache gewährleistet.

Mein Eindruck ist, dass Teile dieser Entscheidungsfragen durchaus vorbeantwortet sind, allerdings nicht hinlänglich reflektiert und sowohl innerhalb der Parteigremien und gegenüber der parteinahen Öffentlichkeit nicht (ausreichend) kommuniziert.
So sehe ich gewisse Präferenzen hinsichtlich der Grundorientierungen:
Materiell konsumorientiert statt postmateriell lebensorientiert. Beschleunigung statt Entschleunigung. Verändern statt Bewahren. Mehr bekommen statt Genießen. Interaktion statt Selbstfindung.
Man gewinnt den Eindruck, dass insbesondere Vertreter postmaterieller und hedonistischer, aber auch konservativer Werte bislang nicht effektiv angesprochen werden. Dies mag an einer (Über)betonung der Werte "Leistung" und "Fortschritt" liegen.
Meiner Meinung nach sprach - und spricht – die FDP deutlich bevorzugt Wähler aus den fünf gehobenen Milieus an, insbesondere die „Liberalen Intellektuellen“, die „Performer“ und die „Expeditiven“, deutlich weniger die „Konservativ Etablierten“ (CDU/CSU-Klientel) und die „Sozialökologischen“ (Grünen-Klientel). Die Milieus der mittleren und der Unteren Mittelschicht („Adaptiv-Pragmatische“, „Bürgerliche Mitte“, „Traditionelle“ und „Hedonisten“ ) werden sehr viel weniger angesprochen und zudem zielgruppeninadäquat. Bisher gelingt es nur mangelhaft, diese Gruppen zu erreichen. Noch viel weniger trifft das auf die Milieus der Unterschicht, die „Prekären“ und die „Ausgegrenzten“ zu. Man gewinnt den Eindruck, dass dieses Segment bisher nicht, bzw. völlig inadäquat bearbeitet wird.

Fazit:
Wir sollten Klarheit darüber gewinnen, wer unser potenzieller Wähler ist und wer er nicht ist. Vielleicht macht es Sinn, sich auf bestimmte Milieus zu konzentrieren und andere zu vernachlässigen. Andererseits stünde es unserem liberaldemokratischen Anspruch gut zu Gesicht, eine wirksame Kommunikation mit allen Gruppen der Gesellschaft zu entwickeln. Wichtig erscheint mir in jedem Fall, dass diese Entscheidungen gut reflektiert getroffen und transparent kommuniziert werden. Darüber hinaus sind dann zielgruppenadäquate Ansprachestrategien für diese Milieus zu entwickeln.
DEN potenziellen FDP-Wähler gibt es nicht. Wir sollten ihn zu Grabe tragen!

Freitag, 9. Oktober 2015

Die Rückeroberung des Begriffs der Freiheit




Man begegnet dieser offensichtlich weit verbreiteten Volksmeinung immer wieder: Die „Alternative für Deutschland“ vertrete so etwas wie den eigentlichen, wahren Liberalismus, wertverbunden und prinzipienorientiert. Die FDP sei hingegen eine identitätslose Softcoreversion des Liberalismus, anfällig gegenüber schädlichen Tendenzen des politischen Mainstream und monetären Verlockungen und deshalb letztlich verzichtbar. Wie kann es eigentlich sein, dass eine Partei wie die „AfD“, die offensichtlich so gar nichts mit freiheitlichem Denken zu tun hat, die auf engste mit nationalchauvinistischen und ressentimentgesteuerten Wut- und Angstbürgerbewegungen wie Pegida verknüpft ist, von so vielen Menschen immer noch für den Gralshüter des Liberalismus gehalten wird? Wie kann es sein, dass sich im liberalen Umfeld, bei der Hayek-Gesellschaft etwa, in freiheitlichen Blogs, Thinktanks und Netzwerken Denkende und Schreibende über den Umgang mit fragwürdigen Kräften zerstreiten und an der Frage verzweifeln, wo genau die Grenzen der liberalen Familie zu ziehen sind? Ohne diese Fragen auf Anhieb beantworten zu können, ist eines offensichtlich klar: Dass wir es bei soviel Orientierungslosigkeit mit einer Diffusion des Liberalismusbegriffs und mit einer Identitätsstörung des politischen Liberalismus zu tun haben.

Früher war die politische Orientierung doch einfach und klar: Es gab das freiheitliche bürgerliche Lager, modernistisch geprägt, marktwirtschaftlich orientiert und demokratisch verwurzelt – und es gab die politische Rechte, faschistoid ausgerichtet und staatsfixiert denkend. Zwischen beiden lag kaum etwas, es gab wenig, das sie verband und unendlich viel, das sie trennte. Heute sind die Konturen aufgeweicht, diffus verschwommen. Es gibt nicht wenige nationalchauvinistische Reaktionäre, die sich zum freien Unternehmertum bekennen und marktwirtschaftlich geben. Andere selbsterklärte „Liberale“ bekämpfen auf aggressive Art die offene Gesellschaft und stellen die Ideen der Aufklärung und Werte wie Toleranz und Vielfalt offen in Frage. Wo es früher eine deutliche Abgrenzung von Kulturen und Sprache gab, finden wir heute zunehmend eine Vermischung: Nationalchauvinistisches, völkisch geprägtes Gedankengut und menschenverachtend - zynische Sprache dringen immer weiter in die bürgerliche Gesellschaft vor und verändern das kollektive Bewusstsein. Hemmungen schwinden, die offene Gesellschaft gerät in Rückzugsgefechte mit der immer offensiver vorgetragenen Gegenoffensive. Diese Bedrohung von Rechts ist anders als früher deshalb so gefährlich, weil sie den freiheitlichen Habitus imitiert und sich unserer Kulturformen und Begriffe bedient. Die neue Gefahr von Rechts kommt heute mitten aus dem bürgerlich-freiheitlichen Lager. Es scheint so, als habe ein Wirkstoff seine chemische Struktur verändert und sei heute, anders als früher, in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und auf das Gehirn unmittelbar einzuwirken.

Wir erleben gegenwärtig einen inflationären Gebrauch der freiheitlichen Begriffe. Von rechts bis grün bezeichnet man sich als "liberal". Liberalsein ist offensichtlich "in", entspricht dem Zeitgeschmack. Dass große Unklarheit darüber besteht, was der Modebegriff eigentlich genau bedeuten soll, stört offenbar wenig. Eine besondere Rolle spielt die Usurpation des zentralsten Begriffes des Liberalismus überhaupt: Dem der Freiheit. Der Freiheitsbegriff ist heute völlig diffus und kann mit völlig austauschbaren Inhalten gefüllt werden. In Österreich kommt die „Freiheitliche“ Partei mit rassistischen Parolen und antipluralistischen, intoleranten Konzepten daher. Internetportale, die sich in ihren Kolumnen gegen die offene Gesellschaft und aufklärerische Ideen von Toleranz und Vielfalt richten, bedienen sich der freiheitlichen Metaphorik. Für den naiven Leser ist heute überhaupt nicht mehr klar, für was zentrale Begriffe des politischen Liberalismus stehen und – schlimmer noch – für was sie nicht stehen.

Mindestens ebenso negativ wirkt sich aus, dass es den neurechten Demagogen gelungen ist, zentrale Werte für sich zu besetzen. Der „AfD“-Politiker Alexander Gauland etwa schrieb: “Wir werden es künftig mit zwei kulturellen Milieus zu tun haben, einem liberal individualistischen, das sich für Zuwanderung, die Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften und jede Art von Selbstverwirklichung stark macht, und einem wertkonservativen, das auf einer verbindlichen Identität aus moralischen Prinzipien und abendländischen Traditionen besteht und wirtschaftlichen Notwendigkeiten wie wirtschaftlichen Erfolgen eher skeptisch gegenübersteht, also nicht mehr das bürgerliche Lager gegen die Sozialdemokratie, sondern Konservative versus Liberale in allen Parteien.“ Anders als andere schmückt sich Gauland nicht mit dem Liberalismus-Begriff, sondern grenzt sich davon ab, indem einen Hiatus zwischen „wertgebundenen Konservativen“ und „wertfreien Liberalen“ generiert. In jedem Fall besteht ein Hegemonieanspruch der Neurechten auf Wert und Moral: Das wertgebundene, moralische Milieu, so die Erzählung, stehe für Heimat, Tradition, Religion, für das Gute eben. Die offene Gesellschaft und ihre Protagonisten hingegen stehen für Bindungsverlust, Entfremdung, Degeneration.

Unschuldig sind wir Liberale nicht daran, dass diese Umdeutungen und Usurpationen gelingen konnten. Bedürfnisse und Ängste von Menschen wurden zu wenig reflektiert. Zu wenig beachtet, dass Menschen Bindung brauchen und Veränderung verarbeitet werden muss, dass zuviel Veränderung in zu kurzer Zeit Menschen überfordern kann. Ebenso wurde viel zu wenig die Werthaftigkeit und Wertgebundenheit von Liberalismus kommuniziert. Liberalismus bedeutet eben nicht Werterelativismus, auch nicht blinden Progressivismus. Freiheit bedeutet eben nicht Wertfreiheit, nicht Ungebundenheit und Bindungslosigkeit, nicht Isolationismus. Freiheit, wie Liberale diesen Begriff verstehen, bedeutet Freiheit in Verantwortung und Offenheit auf der Grundlage ganz entschiedener Wertebindung.

Wie können wir der Begriffsverunklärung und dem Hegemonieanspruch der Neurechten auf Werte und Moral entgegenwirken? Es geht um nicht weniger als die Ehrenrettung des Liberalismus in dieser Zeit. Um die Rückeroberung unseres Terrains, die Rückeroberung unserer Begriffe. Liberalismus ist mehr, viel mehr, als nur ein Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wer antiwestliche Positionen vertritt und Sympathien für Putins Staatsmodell hegt, kann kein Liberaler sein. Wer christlichem Fundamentalismus huldigt oder ein archaisches, frauenfeindliches Familienmodell vertritt, kann kein Liberaler sein. Wer fremdenfeindlichen Ressentiments und Vorstellungen einer national geprägten Volksgemeinschaft anhängt, kann kein Liberaler sein. Auch dann nicht, wenn er, wie FPÖ-Politiker dies gerne tun, auf die enge Verbindung von nationalem und freiheitlichem Lager im deutschen Vormärz, also der Zeit zwischen 1830 und 45, verweist. In der Frühphase der Entwicklung unseres Parteiensystems gab es auch enge Verbindungen zwischen liberalen und radikaldemokratischen Kräften, aus denen später Stalinisten und SED-Sozialisten hervorgegangen sind. Gemeinsame Herkunft kann nicht bedeuten, dass später nach völliger Auseinanderentwicklung nicht eine radikale Abgrenzung erforderlich ist.

Die klare Polarisierung, die unser Land in der Flüchtlingsfrage erlebt, bietet die Chance, die Grenzen wieder neu zu ziehen und in der Zukunft besser zu verteidigen. In dieser Frage ist unsere Gesellschaft tief gespalten: Die Anderen stehen für nationalchauvinistische Ressentiments, für Abgrenzung, für Abschiebung, für Fremdenangst und Zukunftsangst, für Unmenschlichkeit gegenüber Menschen in Not. Das freiheitliche Bürgertum – und zwar gleichermaßen die, die sich eher im klassischen Sinn als Liberale und die, die sich eher als freiheitliche Wertkonservative bezeichnen – stehen für Mitmenschlichkeit, für Integration, für Offenheit und Optimismus trotz Wagnis. Das freiheitliche Bürgertum steht für „German Mut“, ist bereit, für seine Überzeugungen Opfer zu bringen und viel zu riskieren. Liberalismus ist zutiefst von Menschenfreundlichkeit und Menschlichkeit geprägt, von Optimismus und einem positiven Menschenbild. Das unterscheidet uns fundamental von den selbsternannten Pseudoliberalen und Moralaposteln, die sich im Umfeld der „AfD“ als besorgte Bürger tummeln.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Facebook-Schnipsel


Horst Seehofer und die "Herrschaft des Unrechts"
"Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts." So spricht der Parteivorsitzende einer Partei, die auch weiterhin wenig Probleme damit haben wird, als Koalitionspartner an der Regierung beteiligt zu sein, die die Herrschaft des Unrechts implementiert. Seehofer verurteilt, was er (als Chef einer Regierungspartei) selber repräsentiert. Die Klinische Psychologie kennt hierfür den Begriff der Dissoziation – eine Trennung von im Normalfall verbundenen Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten. Die Folge ist eine Störung der integrativen Funktionen des Bewusstseins und der Identität.



Antidiskriminierung und Hausrecht
Bei gewerblichen Betrieben darf es aus meiner Sicht anders als im Privathaushalt keine formelle Diskriminierung geben. Formelle Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund bestimmter Merkmale oder auch aufgrund eines nicht näher bestimmten Gesamteindrucks den Zutritt zu verwehren. Öffentliches Interesse an Nichtdiskriminierung ist höher zu gewichten als das Hausrecht des Gewerbetreibenden. Zulässig hingegen ist informelle Diskriminierung etwa über Preise, Kleiderordnung oder sonstige Verhaltenskultur. Entscheidend ist, dass hier der Gast selber entscheidet, ob er/sie unter den gegebenen Bedingungen teilnehmen möchte.



Christian Lindner zum Antisemitismus von Flüchtlingen
Starker Auftritt von Lindner. Problematisch aber die Aussage zu Josef Schuster: Pauschalisierungen sind immer fragwürdig. Richtig ist aber, dass die Flüchtlinge zu einem sehr erheblichen Teil aus Gesellschaften kommen, die massiv anti-israelisch bzw. anti-jüdisch geprägt sind. Es geht ja hier um Gefahrenabwehr, um Prophylaxe. Da ist es schon legitim, Gruppen besonders im Auge zu haben, bei der die Prognose unzweifelhaft ungünstig ist. Mediziner gehen regelmäßig so vor: Besondere Wachsamkeit bei spezifischen genetischen Dispositionen oder anderen Risikofaktoren. Das bedeutet keine Aussage über den individuellen Einzelfall, auch keine Verharmlosung oder Relativierung rechter Gewalttäter.


Zum Rauswurf Matthias Matusseks bei der "Welt"
Konsensfaschismus: Unsinn! Verlage und Medien müssen auf unsägliche Äußerungen reagieren dürfen. Wollen sie sich nicht dem Vorwurf wertevergessenen Relativismus schuldig machen, müssen sie es sogar. Der Rauswurf war ein Akt von Zivilcourage und Betriebshygiene.


Umgang mit Terrortätern
„Warum geben die Medien so einer Kreatur "last minutes of fame"? Sie ist tot. Gut so. Abhaken. Nächste(n) finden.“ kommentiert Wolfgang J. Stützer.
So einfach sollten wir es uns nicht machen, finde ich. Täter sind immer auch Opfer, Menschen, die ihre Menschlichkeit auf dramatischste Weise verloren haben, fürchterlich gescheiterte Entwicklungen und Biografien, unendlich bittere Geschichten verlorener Träume und Hoffnungen. Mich stimmen solche Lebensgeschichten unendlich traurig. Wir sollten diese Täter, die auch Opfer sind, nicht dehumanisieren – damit stellten wir uns auf eine Stufe mit den Entmenschlichern selbst. Wir sollten uns nicht blindem Hass hingeben, sondern nach den Ursachen fragen, die eine Entmenschlichung von Menschen möglich machen. Und der verlorenen Seelen im Stillen gedenken.



Flüchtlingsintegration
Damit gesellschaftliche Integration gelingt, muss sie sehr früh – möglichst schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen – anlaufen. Die Mehrheit der Flüchtlinge kommt aus bildungsfernen Schichten mit männerdominierter archaischer und streng muslimischer Prägung. Zudem kommen fast alle Flüchtlinge aus ausgesprochen staatsautoritären Gesellschaften. Erfahrungen der Kriegssituation und der Flucht haben zu einer ausgeprägten Enthemmung und Gewaltprägung geführt. Es muss daher vor allem darum gehen, diese Menschen an unser Rechts- und Normensystem, sowie an westliche Werte und Zivilisationsstandards heranzuführen. Vielfach herrschen Versorgungsmentalität, Passivität und unrealistische Erwartungshaltung in Bezug auf Konsummöglichkeiten und Lebensführung vor. Lethargie, Depression und Ängsten muss durch frühzeitige Anleitung zu Eigeninitiative und Selbsthilfe entgegengewirkt werden. Dies gelingt am besten, wenn Flüchtlinge so früh wie möglich die Massenunterkunft verlassen können und am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wir dürfen diese Menschen keineswegs in Wartezonen parken, sondern müssen sie frühzeitig durch aufwändige Maßnahmen integrieren und auch Eigenleistung und eigenes Bemühen um Integration von ihnen einfordern.


Reaktion auf Terror
Die Feinde der offenen Gesellschaft wollen nicht nur, dass wir im Alltag Angst haben. Sie bezwecken, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren, ihre Offenheit durch Abschottung ersetzen und so ihre Stabilität verlieren. Deshalb sind wir aufgerufen, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, die innere Liberalität entschiedener als bisher zu verteidigen.


Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht, dass wir alles ertragen und aushalten müssen. Meinungsfreiheit schliesst auch das Recht ein, Meinung abzulehnen, zu widersprechen und aufzubegehren. Bürger haben das Recht, Geschäftspartner aufgrund ihrer Positionen abzulehnen. Das gilt auch für Verlage und Buchhändler gegenüber Autoren. Meinungsfreiheit ist keine Duldungsverpflichtung.
Es geht hier doch gar nicht um Grenzen der Meinungsfreiheit, sondern um Zivilcourage. Meinungsfreiheit ist keine Duldungsverpflichtung. Menschen müssen nicht jede Zumutung ertragen und stehen dagegen auf. Buchhändler und Verlage zeigen Flagge und reagieren - wenn auch zu spät. Passanten zeigen Zivilcourage in der Fußgängerzone, indem sie klar machen: Wir wollen das hier nicht. Das ist großartig!


Sind wir zu liberal?
Wir sind zu tolerant gegenüber Intoleranz. Wir verwechseln zu oft wertgebundene Freiheitlichkeit mit werterelativistischem Liberallala. Freiheit, die sich nicht gegen ihre Feinde abzugrenzen versteht, weiß sich auch nicht gegen sie zu verteidigen.


Hassbürger
Die Ressentiments der Hassbürger sind ganz stark von gelernter Hilflosigkeit geprägt, vom Gefühl der Selbstunwirksamkeit, der Unfähigkeit, das eigene Leben gestalten, beeinflussen, verändern zu können. Unsere Welt ist eine Welt der Außengeleiteten, der Getriebenen, der Fremdbestimmten geworden. Was wir dagegensetzen müssen, ist eine neue Erzählung der Freiheit, eine Lebenskultur der Freiheit, wie sie etwa Ralph Waldo Emerson in "The American Scholar" zum Ausdruck gebracht hat: Sich auf sich selbst und seine Fähigkeiten besinnen, sein Leben selbst in die Hand nehmen, Verantwortung übernehmen, sich für frei und unabhängig erklären. Was wir dazu brauchen, ist Optimismus, Mut - und eine Vision vom besseren, wirkungsvolleren Selbst.


Horst Seehofers "infantiler" Politikstil in der Flüchtlingsfrage
Marion Horn hat Recht: Horst Seehofer handelt populistisch, unreflektiert, kurzsichtig, staatspolitisch unverantwortlich. Das hat etwas Unreifes - doch es betrifft nicht nur Seehofer und die vorpreschenden CSU-Granden allein. Der "Besorgte-Bürger"-Kultur insgesamt haften gewisse unreife, infantile Verhaltensmuster und Attitüden an: Eine mangelhafte Bereitschaft, die Dinge zu Ende zu denken, eine mangelnde Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu wollen und über den eigenen Tellerrand hinauszudenken, ein narzisstischer Egozentrismus, eine Unwilligkeit, zu teilen, vom Eigenen abgeben zu können. All das kennzeichnet präadulte Entwicklungsphasen.


Ehe-Resilienz und Gender
Ehen scheitern heute vielleicht nicht öfter als früher, aber sie werden viel öfter und schneller geschieden. Diese mangelhafte Resilienz von Ehe (und Beziehung insgesamt) ist dem Zeitgeist geschuldet: Oberflächlichkeit und Larmoyanz, überzogener Individualismus, egoistisch-narzisstische Tendenzen, überzogene Konsumhaltung (Wegwerfmentalität), fehlende Bereitschaft, mühevolle Beziehungsarbeit leisten zu wollen oder zu können uvm. Was "Gender" betrifft: Solange die Bewegung mit emanzipativem Anspruch daherkommt, der für die Interessen von Minderheiten eintritt, verdient sie volle Unterstützung. Aber es gibt wohl auch dogmatische und destruktive Tendenzen der Intoleranz gegenüber dem Mainstream, die sich gegen konservative Lebensmodelle, unsere Sprache und unser Denken richten.


Fernsehauftritt der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise
Die Kanzlerin verkörperte in diesem Gespräch alles, was wir in der FDP mit "GERMAN MUT" ausdrücken wollen: Optimismus, Grundsatztreue, Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, Entschlossenheit, sich gewaltigen Herausforderungen zu stellen, voranzugehen und in Europa Führung zu zeigen. Und eben viel Mut, dafür mit der eigenen Person einzustehen. Dieser offene und ehrliche, sehr lutherische Auftritt war anrührende, große Kommunikation.


Liberale Handschrift in der Flüchtlingspolitik
Ein sächsischer FDP-Ortsverein lädt zu einer Abendveranstaltung mit der "AfD"-Vorsitzenden Frauke Petry ein und erntet breite Zustimmung vor Ort. Nach Einschätzung von Tom Thieme, Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz, stehe die FDP derzeit vor einem Dilemma: Die Partei müsse entweder einen asylfreundlichen oder einen asylkritischen Kurs einschlagen. Eine asylfreundliche FDP würde sich allerdings kaum von anderen Parteien abheben. Und eine asylkritische FDP könne der AfD nicht das Wasser reichen, wenn es um das Flüchtlingsthema gehe. Dieses Dilemma führe zu irrationalen Entscheidungen wie der, Frauke Petry einzuladen, so Thieme.

Ich sehe das Dilemma für die FDP nicht, das Tom Thieme beschreibt. Als humanistisch geprägte Rechtsstaatspartei stehen wir ohne Wenn und Aber zum Asylrecht. Möglichkeiten zur Profilschärfung gibt es dabei genug: Entbürokratisierung, integrationsfördernde, dezentrale Unterbringung, Förderung von bürgerschaftlichem Engagement, Anreize zu Eigenleistung und Eigeninitiative von Flüchtlingen schaffen etc. Es gibt breiten Raum für genuin liberale Impulse und Aktivitäten in der Flüchtlingspolitik. Gemütliche Abende mit Frauke Petry gehören aber ganz sicher nicht dazu.

Montag, 5. Oktober 2015

Drei Ansätze zu einer liberalen Naturpolitik




Drei Ansätze zu einer liberalen Naturpolitik


Neben zwei oder drei Kernthemen, die unseren Wahlkampf prägen werden, benötigen wir auch in anderen Politikbereichen eine genuin liberale Handschrift. Die Zeiten müssen vorbei sein, in denen wir uns auf wenige Themen beschränken und alle anderen weitgehend der politischen Konkurrenz überlassen. Ein solches Thema ist die Natur- und Umweltpolitik. In den siebziger Jahren gab es wichtige umweltpolitische Initiativen der FDP, seither aber ist das Thema Umweltpolitik und insbesondere die Naturpolitik randständig vernachlässigt worden. Deshalb meine These:

Die FDP muss die Naturpolitik als Thema zurückerobern und den Hegemonieanspruch der Bündnisgrünen in der Naturpolitik zurückweisen. Wir können Naturpolitik besser!

Dazu aber braucht es eine genuin liberale Handschrift und einen eigenen liberalen Ansatz in der Naturpolitik. Ich möchte hierzu folgend drei Ansatzmöglichkeiten zur Diskussion vorschlagen. Es handelt sich dabei nicht um konkrete politische Forderungen, sondern um allgemeine Ausrichtungen, die im Zusammenhang mit Grundsatzpositionen in anderen Politikbereichen gesehen werden müssen.

Ansatz 1. Naturpolitik mit den Menschen, nicht gegen die Menschen!

Die bisher praktizierte Naturschutzpolitik – insbesondere auch die der Naturschutzverbände – ist sehr häufig gegen die Menschen und ihre Interessen gerichtet. Menschen werden beim Naturschutz, insbesondere da, wo es um den Schutz bedrohter Arten geht, in der Regel nur als Störfaktor gesehen, der effektivem Naturschutz im Weg steht. Die Folge ist etwa, dass das Betreten ausgedehnter Flächen in Naturschutzgebieten häufig komplett untersagt wird. Ein solches Naturschutzkonzept ist kontraproduktiv, da es Menschen aussperrt und intensives Naturerleben, das erst die Bereitschaft zu Naturschutzbemühungen fördert, völlig ausschließt.

Das liberale Verständnis setzt auf den mündigen, aufgeklärten Menschen und auf seine Bereitschaft, im Einklang mit eigenen Interessen im Verkehr, in der Landwirtschaft und im Freizeitverhalten zum Naturschutz aus eigenem Antrieb beizutragen. Liberale Politik sperrt Menschen nicht aus, sondern bezieht sie mit ein, ermöglicht Begegnung mit der Natur, fördert aktiv Aufklärung und die Bereitschaft zur Mitarbeit. So entsteht das Gefühl, dass man selber am Naturschutz beteiligt wird und er nicht gegen einen und die eigenen legitimen Interessen repressiv durchgesetzt wird.

Ansatz 2. Toleranz und Vielfalt – auch in der Naturpolitik!

An der Herkulesstaude oder dem Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum, Syn.: Heracleum giganteum) scheiden sich bei uns im Siegtal die Geister. Eine regionale Initiative hat sich gegründet, die dem angeblich gefährlichen Neophyten (das sind Pflanzen fremdländischen Ursprungs - also Einwanderer) den Garaus machen sollen: Das "KulturBiotop Siegtal" fordert ein herkulesstaudenfreies Siegtal. Doch auch andere Einwanderer stehen auf der Abschussliste, so im Siegtal der Staudenknöterich (Fallopia japonica , auch Polygonum cuspidatum) und das indische Springkraut (Impatiens glandulifera). Alle drei attraktiven Arten kultivieren wir erfolgreich in den WINDECKER GARTENTRÄUMEN. Auf der Geltinger Birk in Schleswig Holstein wird die Kartoffelrose (Rosa rugosa, hier im Foto) bekämpft: Ein wunderschöner Anblick am Meer, doch auch sie ein vermeintlich „gefährlicher invasiver Neophyt“, weil sie eine andere, hier länger heimische Wildrosenart verdrängt.
Nicht wenige Menschen stellen das Existenzrecht von Neozoen und Neophyten, von eingebürgerten Tieren und Pflanzen, in Frage. Häufig wird dann ökologisch argumentiert: Die Neubürger störten das ökologische Gleichgewicht und verdrängten „einheimische“ Arten, was sie ohne Zweifel mitunter tun. Dahinter steht dann immer eine statische Vorstellung von Lebensgemeinschaften: Die Alteingesessenen haben eine Lebensberechtigung, die Neubürger gelten als Störfall, als Bedrohung. Diese Menschen glauben an eine ewiggültige Vorstellung von „deutschem“ Wald und „deutscher“ Flur. Arten, die zu Goethes Lebzeiten schon hier waren, gehören dazu. Arten, die später gekommen sind, nicht.
Die entgegengesetzte Sicht ist die, Lebensgemeinschaften dynamisch zu betrachten, d.h. wie die Evolution selbst ständig Veränderungen unterworfen. Neuankömmlinge gelten so als Bereicherung, selbst dann, wenn sie alteingesessene Arten verdrängen. Arten haben allein durch ihr Dasein eine Lebensberechtigung erworben.

Als Liberale sollten wir für ein dynamisches Naturverständnis eintreten und Toleranz praktizieren, so wie wir es im gesellschaftlichen Bereich längst ganz selbstverständlich tun. Für gesellschaftliche Vielfalt und Toleranz einzutreten und gleichzeitig ein starres, statisches Naturverständnis zu propagieren und zum Vernichtungsfeldzug von „invasiven Neozoen und Neophyten“ aufzurufen, passt einfach nicht zusammen! (Dies als kleiner Wink an befreundete FDP-Kommunalpolitiker, für die dieser Spagat kein Problem zu sein scheint...) Als Partei der Vielfalt, der Toleranz und der „Willkommenskultur“ müssen wir ein solches Verständnis auch der Natur gegenüber praktizieren.

Ansatz 3. Mehr Nichtintervention wagen!

Im Vergleich zu unseren politischen Konkurrenten neigen Liberale traditionell deutlich weniger zu Interventionen – etwa des Staates in den Wirtschaftskreislauf. Anarcholibertäre treiben diese Nichtintervention, das Laissez-Faire, bekanntlich auf die Spitze, doch selbst „Sozialliberale“ unterscheiden sich im Hinblick auf die Hemmung zum Eingriff noch deutlich von Sozialdemokraten. Wir greifen nicht ein, weil wir glauben, dass sich spontane Ordnungen besser, innovativer und effektiver regulieren. Wir sollten dieses Prinzip als Liberale auf unseren Umgang mit der Natur übertragen!

Selbst in der Kulturlandschaft ist sehr viel mehr Wildnis möglich. Mehr Flächen ausweisen, die sich selbst überlassen bleiben. Jagd nur noch dort, wo andere, naturnähere Methoden der Bestandsregulierung versagen. Mehr Mut bei der Ansiedlung von bestandsregulierenden Prädatoren wie Wolf und Bär. Vielfalts- und stabilitätsorientierte Aufforstung. Bei Schäden prüfen, ob eine natürliche Selbstregulation und Selbsttherapie der Naturlandschaft nicht möglich und vorzuziehen ist. Und vieles mehr.

Fazit: Drei Ansätze zu einer liberalen Handschrift in der Naturpolitik, die dem Menschen mehr zutraut, nämlich aktiv am Naturschutz mitwirken zu wollen und zu können. Die der Natur mehr zutraut, nämlich ohne menschliche Eingriffe Stabilität organisieren zu können. Die auf Vielfalt und Toleranz setzt, originär freiheitliche Tugenden - in der menschlichen Gesellschaft längst erprobt.

Für Ergänzungen bin ich dankbar!