Montag, 27. Juli 2015

Für einen wertgebundenen normativen Liberalismus


 Nudging
„Nudging“ heißt das neue Zauberwort, dem sich das politische Berlin verschrieben hat. Ein Nudge oder Stupser ist der Versuch, das Verhalten von Menschen ohne Verbote oder Befehle zu beeinflussen und zu verändern. Die Methode trägt der offensichtlichen Tatsache Rechnung, dass die alte Verbotskultur des Obrigkeitsstaates mit Verbotsschildern wie „Rasen betreten verboten“ und Hinweisen wie „Eltern haften für ihre Kinder“ in einer freiheitlichen Welt – oder zumindest in einer Welt, die den Anspruch erhebt, freiheitlich zu sein, ihren Charme völlig verloren hat. Der Begriff wurde vom Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und vom Rechtswissenschaftler Cass Sunstein in ihrem 2008 erschienenen Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ (deutscher Titel: „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“) geprägt. Es geht den Autoren um Verhaltensänderung in eine gewünschte Richtung, um eine Beeinflussung ihrer „Entscheidungsarchitektur“.
Das Bestreben, menschliches Verhalten nach eigenen Vorstellungen zu verändern, bezeichnen wir gemeinhin als Paternalismus. Ärzte und Psychotherapeuten, auch Rechtsanwälte und besonders Lehrer, neigen in besonderer Weise zum Paternalismus. Sie wissen besser, oder glauben, besser zu wissen, was gut und was schlecht für ihre Patienten, Klienten, Mandanten und Schüler ist. Alle Angehörigen der Freien Berufe sind von ihrem edukativen oder therapeutischen Selbstverständnis her Paternalisten. Aufgrund ihres Wissensvorsprungs handeln sie zum Wohle der ihnen Anvertrauten, wenn sie deren Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen versuchen. Zumindest haben sie den Anspruch, in deren wohlverstandenem Interesse zu handeln. Und häufig, aber durchaus nicht immer, ist es auch so. Patienten, Klienten, Mandanten und Schüler folgen häufig den Anweisungen im Vertrauen, gelegentlich sträuben oder widersetzen sie sich, empfinden die Vorschriften und Maßregeln als anmaßende Bevormundung ihrer eigenen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit.
Libertärer Paternalismus
Thaler und Sunstein bezeichnen ihr Modell als „libertären Paternalismus“. Was das bedeutet, lässt sich am Beispiel der Fliege zeigen: Männer, die ein Toilettenurinal verwenden, zielen bekanntlich häufig suboptimal – der verspritzte Urin wird zum Ärgernis. Auf der Flughafentoilette des Amsterdamer Flughafens Schiphol hatte deshalb ein Betriebswirt die Idee, das Bild einer schwarzen Stubenfliege in die Schüsseln der Flughafen-Urinale zu ätzen, gleich neben dem Abfluss. Das Ergebnis war ausgesprochen positiv: 80 Prozent weniger ging daneben. Und das, obwohl kein Mann bei Androhung von Strafe oder sozialer Ächtung gezwungen wurde, die Fliege anzuzielen. Allein die Bereitstellung der „Entscheidungsarchitektur“ führte zum gewünschten Ergebnis: Eine freiwillige Verhaltensänderung. Dem Entscheider steht jederzeit die Möglichkeit offen, sich gegen den Weg zu entscheiden, auf den er “gestupst” wird. Libertärer Paternalismus eben.
Libertäre Paternalismus weiß genau, was für den Menschen gut ist. Er handelt zum Wohl der Bürger und bringt sie auf den rechten Weg. Wie sollen wir Liberale uns dazu stellen? Entfaltet dieses Modell nicht enormen Charme? Oder ist es am Ende wohl doch ein Anschlag auf die Freiheit? Immerhin: Solange mir als Toilettenbenutzer die Wahl bleibt, auf die Fliege zu zielen – oder aus Renitenz bewusst daneben, kann ich als Liberaler wohl mit dem Stubser ganz gut leben – allemal besser als mit Verbotsschildern, die mir an öffentlichen Gewässern auf unmissverständliche und wenig charmante Art das Baden untersagen. Allerdings nur, solange mir die Wahl bleibt – und solange aus dem Stubser kein übler Anrempler wird.
Wie erzieherisch dürfen Liberale sein?
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, wieviel edukativen oder therapeutischen Anspruch wir Liberale uns zugestehen können und wollen. Ist es überhaupt mit unserem freiheitlichen, toleranten Anspruch zu vereinbaren, an anderen Menschen herumzuerziehen und herumzudoktern, wenn sie uns nicht ausdrücklich dazu aufgefordert haben? Mitunter reden wir uns mit mangelnder Reife oder Einsichtsfähigkeit heraus, bei Minderjährigen etwa oder bei Patienten mit bestimmten psychiatrischen Erkrankungen. Hier setzen wir uns im Interesse der Allgemeinheit und im angenommenen Eigeninteresse der Betroffenen über deren Eigenwillen hinweg. Dies wird gewöhnlich dann auch gesellschaftlich so weitgehend akzeptiert.
Wie aber steht es etwa mit volljährigen Obdachlosen, die im Innenstadtbereich – aus unserer Wahrnehmung – verwahrlosen, ihren Körper durch Drogen schädigen, ihr menschliches Potenzial scheinbar sinnlos verschleudern? Jedem unter uns, der die Welt mit humanistischem, therapeutischem oder erzieherischem Anspruch betrachtet, ziehen sich bei solchen Bildern die Eingeweide zusammen. Aus rechtlicher Sicht haben wir gar keine Möglichkeit, zu intervenieren, wenn die Betroffenen es nicht wollen. Die interessante Frage, die sich vor allem dem Liberalen stellt, ist aber: Dürfen oder sollten wir überhaupt auch nur den Anspruch erheben, hier eingreifen zu wollen? Verletzen wir nicht mit einem solchen Anspruch schon das Recht dieser Menschen auf Selbstbestimmung?
Relativismus
Es gibt nicht wenige Liberale und noch mehr Libertäre, die zum Werterelativismus neigen. Für sie ist jede Lebensform gleich gut und gleich schlecht, jede Erkenntnis gleich wahr und gleich falsch, jeder Sinneseindruck gleich schön und gleich hässlich. Zumindest behaupten sie das, weil es ihrem selbstkonstruierten Weltbild entspricht. Ich bestreite, dass es so ist, denn es gibt nachweislich uns angeborene Kategorien des Wahren, Guten und Schönen. Unser Gehirn ist so angelegt, dass es verbindliche Werturteile gibt, die wir nicht einfach beiseite wischen können. Auch wenn unser kulturrelativistisch ausgerichteter Neocortex es so haben möchte: Unsere älteren Gehirnanteile, das limbische System, die Basalganglien, unser Unterbewusstsein, haben genaue, entwicklungsgeschichtlich erworbene Vorstellungen davon, was gut, wahr und schön ist. Darum kommen auch Kulturrelativisten und Werterelativisten nicht herum.
Die Ikone der Relativisten ist Conchita Wurst, die Sängerin, Travestiekünstlerin, Dragqueen mit Vollbart, die ihr relativistisches Programm schon im Namen trägt: Die Lebensform, die sexuelle Identität, alles ist wurscht. Es gibt kein richtiger oder falscher, kein besser oder schlechter. Für Liberale und Libertäre relativistischer Gesinnung ist alles gleichermaßen zu akzeptieren und zu tolerieren. Es ist eh alles wurscht.
Wertgebundener Liberalismus
Keineswegs alle Liberalen waren und sind Werterelativisten. Die bedeutenden Ordoliberalen und Neoliberalen waren in ihren Vorstellungen alle dezidiert wertgebunden. In besonderer Weise trifft das auf Wilhelm Röpke zu. Er unterschied scharf zwischen bloßer Libertinage, dem „anything goes“ und einem wahren Liberalismus, der immer wertgebunden und für Röpke fest im Christentum verankert war. Er hatte klare Vorstellungen von Staat und Gesellschaft und vom autonomen, wertgebundenen, im Idealfall zur materiellen Selbstversorgung fähigen Bürger. Aus Sicht radikaltoleranter Relativisten war Röpke wenig tolerant. Mit Conchita Wurst und sehr vielen Erscheinungen der modernen Welt hätte er sich – und hat er sich (er starb 1966) sehr schwer getan.
Sicherlich werden wir heute vielem, was für Röpke Ausdruck von Vermassung, Entfremdung und Degeneration war, gelassener und toleranter begegnen. Unsere Welt verändert sich und wir mit ihr. Dem Bizarren, Schrillen begegnen wir mit viel mehr Offenheit, als Wilhelm Röpke dies tat. Dennoch bleibt aus meiner Sicht für Liberale, müssten wir uns zwischen den Idolen Conchita Wurst und Wilhelm Röpke entscheiden, die Antwort eindeutig und klar: Auch und gerade der liberale Mensch braucht Wertmaßstäbe und wertgebundene Orientierung. Sie erst verleiht ihm Sicherheit und Haltung. Ich plädiere hier für einen wertgebundenen Liberalismus, der auf verlässlichen Vorstellungen des Wahren, Guten und Schönen gründet.
Liberale und die Freien Berufe
Nicht ohne Grund kommen viele Liberale traditionellerweise aus den Freien Berufen, also aus dem gesellschaftlichen Segment, das in besonderer Weise paternalistische Neigungen und Vorstellungen entwickelt. Viele Liberale sind Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten, Lehrer und Erzieher, Rechtsanwälte. Sie arbeiten mit Menschen und in besonderer Weise am Menschen. Ein Arzt oder Therapeut, der keine Vorstellung von gesundheitsfördernder Lebensweise entwickeln und versuchen würde, seine Patienten oder Klienten in diesem Sinne zu beeinflussen, wäre kein guter Arzt oder Therapeut. Ein Lehrer, der keinen pädagogischen Anspruch hätte, wäre kein guter Lehrer. Freiberufler sind Dienstleister am Menschen und wollen, ja müssen, im Hinblick auf den Menschen wirken, verändern, beeinflussen. Sie tun dies, gerade als Liberale, mit freiheitlichem und humanistischem Anspruch. Gerade sie wissen, dass exzessive Toleranz auch Gleichgültigkeit bedeuten kann und den Verzicht darauf, Lebensverhältnisse von Menschen verbessern zu wollen.
Für einen wertgebundenen normativen Liberalismus
Liberale dürfen, wenn sie ihrem eigenen humanistischen Anspruch genügen wollen, therapeutisch und erzieherisch denken und handeln. Sie dürfen einen normativen Anspruch verfolgen und Lebensverhältnisse von Menschen verändern wollen und das tatsächlich tun. Das ist das Wesen und die Kernaufgabe von Politik. Hätten wir diesen Anspruch nicht, wäre unsere Organisation überhaupt keine politische Partei. Anders als bei unseren politischen Wettbewerbern steht aber immer der einzelne Mensch und sein prinzipielles Selbstbestimmungsrecht im Zentrum unserer Politik. Liberale machen Politik für die Menschen und im Interesse dieser Menschen. Wir dürfen menschliches Verhalten dabei auch verändern wollen.
„Nudging“ ist, wie jede Form des Paternalismus kein für Liberale gangbarer Weg, der mit einer toleranten Freiheitskultur kompatibel ist. Wir setzen bei gewünschter Verhaltensänderung von Menschen nicht auf Verbotsschilder oder grüne Verirrungen wie den „Veggie-Day“ oder den „Hundeführerschein“. Liberale wirken als Vorbilder, versuchen durch überzeugende Modelle zu wirken, durch eigenes Vorleben glaubwürdige Impulse zu vermitteln. Uns geht es dabei weniger um konkrete Lösungen oder Lebensstile. Die soll jeder Mensch für sich selbst herausfinden. Uns geht es um Mentalität, um Bewusstsein und um Lebenseinstellung, um eine Kultur des Mutes, des Optimismus und der Lebensfreude. Wir wenden uns gegen einen angstfixierten, depressiven Zeitgeist und die lähmende Lethargie, die seine Folge ist. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Mut zu machen, eigenständig zu denken und den eigenen Weg zu gehen, an sich zu glauben, sich zu entwickeln und zu entfalten. Wir kommunizieren, erklären politische Absichten so, wie es der gute Arzt und der gute Lehrer mit den von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen tun. Dabei müssen wir kein schlechtes Gewissen haben. Wir sollten uns die Sinne nicht mit falschverstandenem werterelativistischem Toleranzgefasel vernebeln. Wir dürfen wirken und wir müssen das auch wollen.

Montag, 20. Juli 2015

Autobiografische Skizzen

Wallrabenstein
Unser Familienname kommt vom gleichnamigen Ort im Rheingau-Taunus-Kreis (Hessen), heute ein Ortsteil der Gemeinde Hünstetten mit Burgruine aus dem 14.Jahrhundert.

Windeck
In Wuppertal aufgewachsen und nach einigen Jahren in Rummenohl (Stadt Hagen) und Altenhof (Gemeinde Wenden) im Kreis Olpe ist Windeck an der Sieg seit Januar 1992 meine Heimat. Genauer ist es das Dörfchen Eich, im Südosten der Gemeinde, dicht an der Landesgrenze nach Rheinland-Pfalz. Liegt Windeck, die östlichste Gemeinde im Rhein-Sieg-Kreis, im Bergischen Land? Oder im Westerwald? Das Land am Mittellauf der Sieg gehört zu beidem, verbindet beides, den Westerwald im Süden und das Bergische Land im Norden, hinzu kommt das Rheintal mit dem Siebengebirge im Westen und das Südsauerland und Siegerland im Osten. Windeck liegt mittendrin - und ist landschaftlich überaus reizvoll.

Windecker Gartenträume
Der von meiner Ehefrau Elke und mir angelegte Schau- und Meditationsgarten im Erholungsgebiet Windecker Ländchen mit Stilelementen des Japanischen Gartens, des Chinesischen Gartens und des Englischen Landschaftsgartens: Asiatische Skulpturen, Bambus, Fächerahorne, Rhododendronhaine, Efeuhecken und Teichlandschaften inmitten alter Eichen- und Kiefernbestände.


Herkunft
Ich entstamme einer Familie mit niederbergisch-rheinischen und kurhessisch-oberhessischen Wurzeln. Das Elternhaus war kleinbürgerlich konservativ und protestantisch geprägt. Mein Vater war Gärtner. Durch Mithilfe wurde ich schon sehr früh an alle Arbeiten im Gartenbau herangeführt. Wirkliche Begeisterung für das Gärtnern stellte sich allerdings erst ein, als ich selbst gestalterisch und kreativ tätig werden konnte.


Meine Großeltern Auguste und August Wallrabenstein. Sie waren begeisterte Natur- und Gartenfreunde. Ich verdanke ihnen viel. Leider haben sie die GARTENTRÄUME nicht mehr kennengelernt. Sie hätten ihre Freude daran gehabt.

Berufliches
Ich bin Lehrer in der Sekundarstufe II  für Deutsch und Politik/Sozialwissenschaften. Unterrichtet habe ich an einem Leverkusener Gymnasium, einer Kölner Berufsschule und an einer Bonner Privatschule. Außerdem in der Erwachsenenbildung, vor allem Englisch an Volkshochschulen und einer Sprachenschule in Olpe. Ebenso habe ich langjährig im Schülerförderunterricht und in der Prüfungs- und Lernberatung gearbeitet. Mehrjährige Arbeitserfahrungen habe ich zudem in der Krankenhauslogistik und als Helfer und Praktikant in der Krankenpflege sammeln können.

Elke
Seit 1992 sind wir glücklich verheiratet. Sie ist die Seele unseres Gartens und pflegt ihn mit liebevoller Hand.

Traunsee, Oberösterreich 2014

FDP
Meine erste Berührung mit der FDP war zufällig. In der Wuppertaler Fußgängerzone drückte mir ein Wahlkämpfer einen Stapel kleiner Büchlein über Hans-Dietrich Genscher in die Hand und bat mich, sie zu verteilen. Genscher hatte damals seinen Wahlkreis im Wuppertaler Westen. So wurde ich zum Wahlkämpfer für die Partei, zu der ich noch keinerlei Bindung hatte. Wenig später traf ich in Bad Reichenhall den dort kurenden damaligen Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Wolfgang Mischnick. In einem etwa zweistündigen Gespräch weckte er mein Interesse an der liberalen Partei und am Liberalismus. Er konnte begeistern und die Dinge auf den Punkt bringen. Im Kurpark von Bad Reichenhall wurde ich zum Liberalen. Eine Woche später - im September 1979 - trat ich, in der Spätphase der sozialliberalen Koalition, in die FDP ein.
Zunächst war ich bei den Jungen Liberalen aktiv, die sich gerade als Gegenströmung zu den immer weiter nach links abdriftenden Jungdemokraten als neue Jugendorganisation gegründet hatten. Eine frühe Wuppertaler Bekanntschaft bei den Jungen Liberalen war Silvana Koch-Mehrin. Häufig war ich in Bonn, einem frühen Schwerpunktort der Jungen Liberalen. Dort traf ich auf Westerwelle.
Viel zu verdanken habe ich den Bildungsstätten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Wichtige Orte der politischen Sozialisation wurden der Margarethenhof in Königswinter und die Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach, vor allem deren Kellerkneipe, die beliebt-berüchtigte Wacholderstube. Hier fand in feuchtfröhlicher Umgebung so manche Begegnung statt und so manches ernste und weniger ernste Gespräch wurde dort geführt. Von besonderer Bedeutung über die Jahre wurden die “radikalliberalen Foren”. Ihnen verdanke ich die Hinwendung zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie und die Bekanntschaft mit dem Buchautor Roland Baader, die prägend werden sollte.

Wolfgang Mischnick

Primaten
Meine intensive Beschäftigung mit unseren nichtmenschlichen Primatenverwandten hat mein Weltbild und mein Selbstbild massiv verändert. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich auf meiner ersten Sri-Lanka-Reise. Schon vor diesem Abend hatten mich in Anuradhapura und Polonnaruwa die halbzahmen Ceylon-Hutaffen und Hanumanlanguren begeistert, die sich in den alten Tempelanlagen füttern ließen. Nun aber hatte ich einen Abendspaziergang von meinem Hotel im nördlichen Hochland aus unternommen und war einer Gruppe von Weißbartlanguren (Trachypithecus vetulus) begegnet – einer Art, die nur auf Sri Lanka vorkommt. Ohne besondere Scheu vor mir hatten sie einen abendlichen Futterbaum bezogen und fraßen, kommunizierten und spielten. Ich war fasziniert von ihrem reichhaltigen Sozialverhalten. Diese Weißbartlanguren standen am Beginn vieler zukünftiger Primatenbeobachtungen und einer wachsenden Leidenschaft. Meine besonderen Lieblinge wurden Galagos und Tarsier, Krallenaffen und Kapuziner, Languren und Gibbons. Einen großen Teil meiner Bibliothek füllen heute Bücher über Primaten. Ich kann nicht verstehen, wie manche Menschen abfällig und verächtlich auf unsere Verwandten hinabblicken. Wir verdanken unseren faszinierenden Cousins alles und wären nichts ohne sie. Ich empfehle heute jedem, insbesondere aber Psychologen und Pädagogen, ein intensives Primatenstudium. Wir gewinnen erst dann wirklich eine fundierte Vorstellung von uns selbst, wenn wir wissen, wo wir herkommen. Die Liebe zu den Primaten steht am Beginn der Liebe zu den Menschen.

Trachypithecus obscura

Psychologie
1.Jeder Mensch ist allen anderen Menschen gleich. 2.Jeder Mensch ist manchen anderen Menschen gleich. 3.Jeder Mensch ist keinem anderen Menschen gleich. Diese drei Sätze aus einer psychologischen Eingangsvorlesung haben mein Denken verändert. Die Psychologie, die Wissenschaft des Fühlens, Denkens, Wollens und Handelns, hat mich von Jugend an fasziniert, insbesondere die Differenzielle Psychologie – die Persönlichkeitspsychologie –, die sich mit den Unterschieden menschlicher Charaktere und Persönlichkeiten beschäftigt. Wie verschieden wir sind in unserer Wahrnehmung, unserer emotionalen Verarbeitung und in unserem Verhalten! Welcher Reichtum für die Gesellschaft sich aus dieser Vielfalt ergibt. Wenn man diese Vielfalt erkennt, sie zu schätzen und zu lieben lernt, kommt man zwangsläufig zu dem Punkt, wo man diese Vielfalt bewahren und die Potenziale, die Möglichkeiten, die sich aus dieser Vielfalt ergeben können, fördern und entwickeln möchte. Bei mir lag hier der Weg begründet zum Pädagogen einerseits, zum Humanisten und zum Liberalen andererseits.

Ostsee, Rügen 1990


Positive Psychologie
Stark beschäftigt habe ich mich mit der Klinischen Psychologie, der Wissenschaft von den psychischen Störungen und Erkrankungen. Schwerpunkte liegen vor allem im Bereich der Affektiven Störungen (Depression und Erschöpfungsdepression), der Angststörungen, der Somatisierungsstörungen (dem Ausdruck psychischer Störungen in körperlichen Symptomen) und den Persönlichkeitsstörungen. Die Klinische Psychologie ist ein spannendes und begeisterndes Fach, ist aber fokussiert auf die Störung, das Defizit und den Mangel von Menschen. Von jeher fasziniert haben mich hingegen gerade menschliche Stärken, Leistungspotenziale und Kraftquellen. Hiermit beschäftigt sich die Positive Psychologie, auch Gesundheitspsychologie. Zentrale Begriffe sind Resilienz und Salutogenese. Resilienz, oder psychische Widerstandsfähigkeit, ist die Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche Kraftquellen zu bewältigen. Salutogenese bedeutet die Förderung und Entstehung von Gesundheit und Widerstandsfähigkeit. Im Mittelpunkt stehen dabei die Entwicklung von Bewältigungsstrategien, das Coping. In enger Anlehnung an die Sozialpsychologie interessieren mich dabei vor allem gesundheitsfördernde Lebensbedingungen und Lebensumwelten. Es geht mir darum, gesundheitsfördernde Lebensbedingungen und Lebensumwelten, in denen Menschen ihr individuelles menschliches Potenzial – letztlich zum Wohle aller – bestmöglich entfalten können, zu propagieren und zu befördern. Mit dieser Zielrichtung ist man zwangsläufig wieder sehr eng am Liberalismus.

Im Wuppertaler Garten, 1962

Optimismus und Mut
Dies sind die beiden Kernkompetenzen der liberalen Persönlichkeit. Warum müssen Liberale mutig sein? Weil die Freiheit, neben der Gesundheit unser höchstes Gut, ständig in Gefahr gerät und gegen die Feinde der Freiheit verteidigt werden muss. Warum aber gibt es so viele Freiheitsfeinde? Weil Menschen über andere Menschen herrschen wollen. Aber viel mehr noch, weil Freiheit unbequem ist und unsicher. Wir neigen von unserer psychischen Konstitution her zu Sicherheit, zu Ordnung, Ruhe, Gemütlichkeit, Behaglichkeit. Wir richten uns gerne ein im rundumbetreuenden Wohlfahrts- und Nannystaat. Unsere Freiheit geht aber dabei scheibchenweise verloren. Und schlimmer noch, unser menschliches Potenzial verkümmert. Warum sind Liberale optimistisch? Weil sie unbeirrt an den Menschen und an menschliche Leistungs- und Entfaltungspotenziale glauben. Weil sie in Veränderungen und Entwicklungen die Chance und nicht das Risiko sehen. Weil sie Menschen vertrauen und ihrer Vielfalt, nicht der Monostruktur der Masse, der Organisation, des Staates. Optimismus und Mut stehen als Kernkompetenzen der liberalen Persönlichkeit nicht ohne Grund auch im Zentrum der humanistisch geprägten Positiven Psychologie.

Als Lehrer, 1992

Religion und Weltanschauung
Obwohl protestantisch getauft und katholisch getraut, stehe ich allen religiösen Glaubensinhalten und den Religionsgemeinschaften fern und bezeichne mich als Agnostiker. Der Agnostiker ( der "Nichtwissende") klammert letzte Fragen als letztlich unbeantwortbar aber auch als unbedeutend für sein Leben aus und beschäftigt sich statt dessen konzentriert mit dem Leben auf dieser Welt. Ich glaube an die Natur und ihre Schöpferkraft, den Menschen und seine Entwicklungsmöglichkeiten und an die Freiheit. Mit vielen religiösen Menschen teile ich aber die starke Wertschätzung von Wertebewusstsein und eine ethisch-moralische Grundausrichtung. Ich bin alles andere als ein Werterelativist und glaube, dass es das Wahre, Gute und Schöne und die Notwendigkeit der Sinnsuche in unserem Leben gibt. Der sinnentleerte Materialismus ist mir ein Gräuel. Geld und materieller Besitz sind für mich allenfalls Mittel, um damit Besseres und Höheres möglich zu machen, keinesfalls mehr. So bin ich maßlos in meinem Streben, aber überaus bescheiden, geradezu asketisch in meinen Ansprüchen und Begehrlichkeiten.

Lebensgefühl
Stark beeinflusst vom Transzendentalismus des Neunzehnten Jahrhunderts und Denkern wie Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Henry David Thoreau, aber auch von Walt Whitman und der pragmatischen Psychologie und Philosophie William James', liebe ich die Natur und das Wilde, Ursprüngliche an ihr, ebenso wie die Freiheit, um Persönlichkeit zu bilden und Möglichkeiten zu entfalten. Der Sinnesgenuss ist mir wichtig: Der gute Rotwein, die Musik, die Erotik und Sinnlichkeit des weiblichen Körpers, das gute Buch und das offene, ehrliche Gespräch, das tiefsinnige, ergründende Denken, Schreiben und Reden - dafür leben wir. Ich hasse Oberflächlichkeit und Konvention, liebe das Eigenständige, Knorrig-Individuelle, Menschen, die ihren eigenen Weg suchen und finden, Widerstände und Hemmendes aus dem Weg räumen. Ich mag Freigeister und Eroberer, Unternehmer und Gründer, mutige Querdenker, Naturbesessene, Tier- und Menschenfreunde. Echte Liberale eben...

Wölfe
Für mich Sinnbild meines Lebensgefühls: Wild und frei, hochintelligent, sozial, faszinierendes hochkomplexes Verhalten. Wunderbar, sie zu beobachten. Mein größter Traum: Mal als Wolf unter Wölfen zu leben...
Polarwölfe

Reisen
Es gibt kaum etwas Wichtigeres für mich: Die Welt kennenzulernen, Horizonte, die sich verändern und Maßstäbe, die sich verschieben. Ich habe viel Faszinierendes gesehen, Begegnungen, die unvergessen bleiben, Eindrücke, die mich geprägt haben. Am stärksten begeistert haben mich der indische Subkontinent, vor allem Sri Lanka. Und natürlich die USA, vor allem die Nationalparks des Westens, Arizona bleibt ständige Sehnsucht, die Northern Arizona University in Flagstaff meine liebste Universität. Alaska, Jamaika, Nordskandinavien, das schottische Hochland, Mallorcas Berge. das Ammerland, Spiekeroog, die Schlei und die Ostsee, das Almtal in Oberösterreich, die Südsteiermark, das Burgenland, der Pfälzer Wald, das hessische Bergland... - die Liste von Landschaften, die mich begeistert haben, ist lang, die Liste von Traumzielen, die ich noch nicht bereist habe, noch viel länger...

Arizona Sunset

Glück, Heimat
Das Schönste am Reisen und genauso wichtig ist jedoch das Heimkehren. Wieder im Garten zu sitzen, zwischen den Rhododendronbüschen oder im Bambushain, mit einem fruchtigen Uhudler oder einem kräftigen Blauen Portugieser und einem guten Buch. Was könnte es Besseres geben?

Positive Psychologie als liberale Leitwissenschaft

Positive Psychologie als liberale Leitwissenschaft 

Im Folgenden will ich ausführen, warum aus meiner Sicht der Positiven Psychologie die Rolle einer Leitwissenschaft für die neue FDP und den politischen Liberalismus generell zukommt. Hierzu ist eine knappe Analyse unserer gesellschaftlichen Situation und des Zeitgeistes notwendig. Zunächst aber ein paar Worte zu der liberalen Leitwissenschaft.

Was ist die Positive Psychologie?
Die Positive Psychologie ist als kritische Antwort auf die Klinische Psychologie entstanden, die sich mit psychischen Erkrankungen und Störungen, mit Konflikten und Mängeln beschäftigt. Die Klinische Psychologie ist defizitorientiert, sie diagnostiziert den Mangel und versucht ihn zu beheben. Sie konzentriert sich folglich auf die Therapie von Störungen.
Die Positive Psychologie ist hingegen ressourcenorientiert. Sie pathologisiert nicht, sucht nicht die Störung. Sie betont das Gesunde, das Funktionstüchtige, die Stärken von Menschen und deren Selbstheilungskräfte. Positive Psychologie fokussiert sich auf Glück und Lebenszufriedenheit von Menschen, auf Wachstumspotenziale der Persönlichkeit, auf die Stärkung von Widerstandskräften und die Förderung von Bewältigungsstrategien. Das Ziel ist die reife, gesunde, stabile und entfaltete Persönlichkeit. Positive Psychologie richtet sich auf menschliche Möglichkeiten, auf Leistungschancen und Entfaltungspotenziale. Sie ist ein dezidiert optimistisches Programm positiven Denkens, positiven Empfindens und positiven Handelns.
Wichtige Konzepte der Positiven Psychologie sind Ressource, Resilienz und Salutogenese. Salutogenese beschäftigt sich mit der Entstehung von Gesundheit als Gegenstück zur Pathogenese, die sich auf die Entstehung von Krankheit fokussiert. Salutogenese, die Förderung von Gesundheit wird als Prozess verstanden, in den man steuernd eingreifen kann. Resilienz bezeichnet die Widerstandskraft gegenüber physischen und psychischen Stressbelastungen. Auch Resilienz kann gefördert werden. Ressourcen sind psychophysische Kraftquellen, die sich entdecken und entwickeln lassen. Sie dienen dem Coping, der Bewältigung und Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen.

Wie steht es um unsere Gesellschaft und den Zeitgeist?
Wir bewegen uns in einem gesellschaftlichen Umfeld, das sehr stark von Pessimismus geprägt ist. Menschen glauben viel zu wenig an ihre Möglichkeiten und an ihre Entfaltungspotenziale. Leistung hat in unserer Gesellschaft einen zu geringen Stellenwert bekommen. In unserer repräsentativen Demokratie glauben die Menschen viel zu wenig daran, partizipieren zu können, die Fähigkeiten zu besitzen, etwas bewirken und verändern zu können. Die Folge ist ein apathischer Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Oder eine anklagende und zugleich hilflose Demonstration von „Wutbürgern“, wie wir es bei der Pegida-Bewegung erleben.
Unsere Gesellschaft ist zutiefst von Depressionen und Angststörungen geprägt. Ein überbordender Individualismus verlangt Menschen im Alltag immer mehr ab. Sie müssen immer mehr selbst entscheiden, Lebensentwürfe planen und Verantwortung tragen. Die Folge sind starke Überforderungsgefühle und Empfindungen von Hilflosigkeit und der Wahrnehmung, den Anforderungen des zunehmend komplexeren Lebens nicht mehr gewachsen zu sein. Am Ende steht die Angsterkrankung, die Depression und das zunehmende Verlangen nach Flucht: Der Weg in die Sucht, oder, wenn nichts mehr hilft, in den Suizid.
Viele Menschen führt die Hilflosigkeit, die Depression und die Angst zu einem gesellschaftlichen Rückzug, in die innere Emigration. Sie stehen dem Leben, insbesondere dem politischen Leben, abweisend und feindlich gegenüber. Sie sind hart und verbittert gegen sich selbst und hart und verbittert gegen Andere. Sie lehnen alles Fremde ab, wenden sich gegen Einwanderer, begegnen anderen Menschen zunehmend zynisch, abweisend und unmenschlich. Sie verweigern Menschen in Not ihre Hilfe und den menschlichen Umgang.
Noch nie ist es uns in Deutschland insgesamt so gut gegangen wie heute. Noch nie war der allgemeine Wohlstand so üppig, die Armut so gering, die gesundheitliche Versorgung so gut und die Lebenserwartung so hoch. Noch nie hatten wir über eine so lange Zeit ein politisches System, das Stabilität, Freiheit und Frieden gesichert hat. Flüchtlinge aus aller Welt zieht es in unser gemeinsames Europa und in unser Land, weil es uns hier so gut geht.
Doch die öffentliche Wahrnehmung erkennt das nicht an. Unser politisches System, die repräsentative Demokratie, wird nicht wertgeschätzt. Unsere Parteien, unsere Freiheit werden nicht wertgeschätzt. Die Partei der Freiheit wird aus dem Parlament gewählt. Die europäische Union, Garant von Frieden und Freiheit in Europa, wird nicht wertgeschätzt. Unsere gemeinsame Währung, Garant für wirtschaftliche Prosperität, wird nicht wergeschätzt. Die NATO, Garant für unsere Sicherheit, wird nicht wertgeschätzt. Wir erkennen alle diese Leistungen nicht an, uns ist nicht bewusst, was wir haben, uns ist nicht klar, was wir verlieren können.

Wofür stehen Liberalismus und die Partei der Freiheit?
Liberale stehen – mehr als andere – für diese nicht ausreichend wertgeschätzten Institutionen: Für unsere repräsentative Demokratie, für unsere Verfassung, für die europäische Integration und die EU, für unsere gemeinsame Währung, für die transatlantische Partnerschaft, für die NATO.
Liberale stehen zudem – wieder mehr als andere – für Werte wie Freiheit, Verantwortung, Leistung, Offenheit und Toleranz. Auch diese Werte werden nicht ausreichend wertgeschätzt. Generell werden Werte nicht ausreichend wertgeschätzt. Wertbewusstes Leben, Denken und Handeln stehen nicht hoch im Kurs.
Es kann deshalb nicht überraschen, dass der Liberalismus, dass die FDP, die Partei der Freiheit, die für nicht wertgeschätzte Institutionen und für aufgegebene Werte stehen, sich in einer Krise befinden. Wie die Inhalte, für die sie stehen, werden zwangsläufig auch die liberale Partei und die Weltanschauung, die dahintersteht, nicht ausreichend wertgeschätzt.
Kann sich das ändern? Es kann – und es muss, denke ich.

Was hat die Positive Psychologie uns Liberalen zu bieten?
Wie bei der Therapie eines Einzelmenschen mit einer Depression oder Angststörung muss es auch uns Liberalen, die wir uns einer gewaltigen kollektiven gesellschaftlichen Melange aus Angst, Verzweiflung, Missmut, Wut und Zynismus gegenübersehen, darum gehen, Wahrnehmungen und kognitive Verarbeitungen zu verändern, die die gesellschaftliche Pessimismus-Welle generieren.
Die Positive Psychologie kann uns anleiten, die Welt um uns herum, vor allem die politische Welt, anders wahrzunehmen, indem wir den Blickwinkel verändern, genauer hinschauen und vergleichen. Uns fragen, ob uns Institutionen und Werte tatsächlich so gleichgültig sind und so wenig bedeuten. Uns die Vorstellung nahebringen, dies alles tatsächlich verlieren zu können.
Sie kann uns Mechanismen der gelernten Hilflosigkeit offenlegen und uns zeigen, wie wir aktiv und erfolgreich partizipieren können, uns in politische Prozesse einbringen und mitwirken können. Sie kann uns ein Bewusstsein vermitteln, dass wir selbstwirksam sind, dass wir Dinge verändern, aber auch sie bewahren und sie verteidigen können.
Sie kann uns zeigen, wie man eine pessimistische Sicht auf die Dinge gegen eine optimistische eintauscht und warum das gut für uns ist. Denn Optimisten sind nicht nur erfolgreicher, sie sind auch gesünder und leben länger.
Sie kann uns anleiten, wieder wertbewusster zu leben, die Natur und die Gemeinschaft wieder zu schätzen, Bindungen wiederaufzubauen, die Entfremdung und Isolation entgegenwirken.
Sie kann uns motivieren, uns für unsere Werte und Bindungen einzusetzen, überzeugtere und engagiertere Familienmenschen zu sein, Bürger unserer Kommune, Staatsbürger, leidenschaftliche Deutsche und Europäer.
Sie kann uns Liberale darin bestärken, entschlossen und engagiert für Institutionen und Werte einzutreten, die momentan wenig geschätzt werden. Wenn wir selber überzeugt sind, können wir andere überzeugen. Wenn wir selber begeistert sind, können wir andere begeistern. Wenn wir mitgerissen sind, können wir andere mitreißen.
Unsere Gesellschaft benötigt dringend optimistische und engagierte Streiter, Bewahrer und Verteidiger, Gestalter und Veränderer. Wertbewusste und gemeinschaftsorientierte Menschen, leistungsorientiert, das Gemeinwohl im Blick, selbstbewusst, tolerant, offen und menschenfreundlich. Echte Liberale eben, die motiviert und optimistisch eine freiheitliche Gesellschaft bauen.
Die Positive Psychologie hält den Werkzeugkasten bereit, den wir dafür brauchen.

Burnout
Obwohl sich die Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert haben und die körperliche Beanspruchung vieler Tätigkeiten geringer geworden ist, erleben wir eine Zunahme von psychischen und psychosomatischen Störungen: Burnout, die Erschöpfungsdepression, scheint eine der größten individuellen Herausforderungen unserer Zeit zu sein.
Unsere globalisierte Gesellschaft fordert von manchen Menschen, über ihre Grenzen zu gehen: Mobilität, Flexibilität und permanente Erreichbarkeit verursachen einen inneren Daueralarm, der langfristig zur Überbelastung führt. Herbert J. Freudenberger prägte Anfang der 1970er Jahre den Begriff „Burnout“, definiert als „einen Zustand erschöpfter physischer und mentaler Ressourcen“, der in einem ursächlichem Zusammenhang mit dem Arbeitsleben steht. Der amerikanische Psychoanalytiker verstand den Zustand explizit nicht als psychische Erkrankung, sondern als Folge einer lebensweltlichen Überlastungssituation. Auch das DSM-V klassifiziert Burnout nicht als psychische Erkrankung.
Gewöhnlich nimmt Burnout einen spiralförmigen Verlauf. Am Anfang steht ein Gefühl von Erschöpfung. Man fühlt sich überfordert, unausgeschlafen und kann nach der Arbeit schlecht abschalten. Zudem ist man unzufrieden mit den Arbeitsergebnissen und der Arbeitssituation. Die eigenen Erwartungen werden nicht annähernd erfüllt, was zu hoher Frustration und Desillusionierung führt. Die Betroffenen haben keine Freude mehr an ihrer Arbeit, erledigen nur noch das Nötigste und distanzieren sich von Klienten und Kollegen. Häufig haben sie das Gefühl, ausgenutzt und nicht anerkannt zu werden. Im Kontakt mit ihren Mitmenschen sind die Betroffenen dann launisch, vorwurfsvoll, ungeduldig und gereizt, was zu weiteren Konflikten führt. Der eigene Anteil an den Auseinandersetzungen wird nicht gesehen. Wer sich aber selbst die Schuld an der Misere gibt, reagiert eher depressiv. Die Betroffenen fühlen sich hilflos, sind ängstlich und nervös. Angesichts der fehlenden Ressourcen, der eigenen Unfähigkeit, etwas an ihrer krisenhaft zugespitzten Situation zu ändern, schwindet ihre Selbstachtung immer mehr.
Die Folge dieser Entwicklung ist ein Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit, Motivation und Kreativität. Die permanente Anspannung und die daraus resultierende Erschöpfung führen zu Konzentrations- und Gedächtnisschwächen. Komplexe Aufgaben zu lösen und klare Entscheidungen zu treffen, fällt Betroffenen sehr schwer. Es kommt zu einer Verflachung des emotionalen, sozialen und geistigen Lebens. Die Menschen ziehen sich emotional zurück bis hin zur Gleichgültigkeit. Sie vernachlässigen ihre Hobbys, ihre Freunde und ihre Familie, und werden langsam einsam. Psychosomatische Reaktionen und Somatisierungsstörungen treten nun gehäuft auf. Ebenso werden auch mehr Alkohol, Kaffee, Tabak oder andere Drogen konsumiert. Schließlich dominiert das Gefühl der Verzweiflung. Hilflosigkeit und Ohnmacht gipfeln in einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit. Das Leben erscheint sinn- und bedeutungslos. Es kommt zu Suizidvorstellungen.
Erschöpfungsdepression hat sehr viel mit Selbstfürsorge und Selbstachtsamkeit zu tun. Nur wenn wir die Signale des Körpers und unsere inneren Befindlichkeiten wahrnehmen können, sind wir in der Lage, rechtzeitig gegenzusteuern. Viele Menschen gehen über ihre Grenzen, weil sie diese nicht bemerken oder aber ignorieren. Am Beginn der Spirale ist es möglich und notwendig, diese krankmachende Entwicklung zu stoppen. Das setzt voraus, dass wir uns selbst mit unseren Gefühlen ernst nehmen und uns Menschen suchen, die uns schätzen und uns bei der Suche nach Lösungen und Alternativen unterstützen. Zu schnell fallen wir in krisenhaft zugespitzten Situationen in alte, oft nicht mehr adäquate Denk- und Verhaltensstrukturen zurück, die uns selbst nicht bewusst sind. Das Wissen um die eigenen Bedürfnisse, Ressourcen und Grenzen ist die Voraussetzung für eine bewusste Gestaltung des eigenen Lebens und fördert die Fähigkeit zur gesunden Selbstfürsorge. Wir müssen lernen, uns zu fordern, ohne uns zu überfordern, zur inneren Ruhe und Gelassenheit finden, unsere Grenzen erkennen und respektieren und ein Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln.
Unsere nachfolgend skizzierten Modelle der Selbsttherapie von Formen der Erschöpfungsdepression orientieren sich an folgenden Prämissen:
1. Stressabbau – die Menschen müssen zur Ruhe kommen.
2. Selbstfindung – Sich-Bewusstmachen der eigenen Leistungsstärken und –schwächen.
3. Reorganisation der Arbeitstätigkeit. Die Arbeit soll fordern, nicht überfordern. Der Arbeitsprozess darf nicht entfremdet sein. Arbeitsergebnisse müssen (be)greifbar sein. Soziale Einbindung ist zentral. Menschen müssen ein Verantwortungsgefühl für ihre Arbeitstätigkeit entwickeln. Sie müssen über Freiheitsspielräume verfügen, in denen sich Kreativität und Schöpfertum generieren lässt. […]

Die Suchtwirkung des Sozialstaats

Die Suchtwirkung des Sozialstaats

Haben sich unsere Sozialverwaltungen von ihrem eigentlichen Ziel entfernt? Ihrem Ziel, das darin besteht, den Bürger zu befähigen, ein unabhängiges Leben zu führen, eigenverantwortlich zu handeln und sein Leben in Freiheit selbst zu gestalten? Nehmen wir als Beispiel die Bundesagentur für Arbeit (BA, ehemals Bundesanstalt für Arbeit, umgangssprachlich Arbeitsamt), die Verwaltungsträgerin der deutschen Arbeitslosenversicherung. Sie erbringt die Sozialleistungen am Arbeitsmarkt, insbesondere Leistungen der Arbeitsvermittlung und -förderung sowie finanzielle Entgeltersatzleistungen, z. B. das Arbeitslosengeld. Sie ist eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung und Anstaltscharakter. Wird diese BA ihrer Aufgabe der Hilfe zur Selbsthilfe für mündige, eigenverantwortliche Bürger gerecht?
Ich denke nicht. Die Bundesagentur für Arbeit ist zu einem Magneten geworden: Wer ihm nahe kommt, der wird von ihm angezogen. Und je näher man ihm kommt, desto stärker hält die BA den Bedürftigen mit ihren Verfahren, Formularen und Leistungen fest. Sie führt in die Abhängigkeit.
Die Sog- und Suchtwirkung des Sozialstaates lässt sich in den Arbeitsagenturen eindrucksvoll beobachten. Die Menschen wirken schwerfällig bedrückt, der unmenschlich-würdelosen Prozedur hilflos ausgeliefert. Kontroll- und Impulsverluste sind deutlich. Die Menschen kämpfen sich sozial isoliert durch ihren Formularwust. Die Agentur geißelt ihre „Kunden“ mit Zuckerbrot und Peitsche: Der Verlockung ihrer mildtätigen Finanzleistungen mag sich keiner entziehen. Dabei besteht seitens der Agentur kein Interesse, den Menschen zu würdevoller, selbstbestimmter Lebensführung zu verhelfen. Stattdessen liegt die Absicht in einer pfleglichen Verwaltung und Betreuung der Abhängigen.
Diese Ausrichtung der Sozialverwaltung widerspricht ihrer Kernfunktion, den Menschen zu helfen, zu einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Würde zurückzufinden. Zu fordern ist deshalb eine Verwaltungsstruktur, die wie ein umgepolter Magnet wirkt: Wer ihm nahekommt, muss immer wieder in die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zurückgebracht werden.
Mit politischen Mitteln allein wird sich die Verwaltungsstruktur des Sozialstaats kaum umkehren lassen. Appelle verpuffen, wo die scheinbare Interessenlage so eindeutig ist. Gefordert ist eine Emanzipation der Bürger von der Bürokratie. Gefordert ist, Mut zu machen, Lebenskrisen wie die Arbeitslosigkeit in eigener Regie, flankiert durch soziales Engagement des persönlichen Umfelds zu bewältigen. Dies ist ein schwieriger, aber notwendiger Weg zur Rückeroberung der eigenen Selbstbestimmung und Würde.
Hilfreich erscheinen aufklärerische Erziehung und Organisation von Selbsthilfe in Betroffenengruppen. Wichtig sind persönlichkeitsfördernde Impulse, die neues Selbstbewusstsein, Initiative und Unternehmergeist befördern. Die Betroffenengruppen können ein neues Gemeinschaftsgefühl generieren, das durch Zeiten der finanziellen Enge hindurchträgt. Die Menschen werden lernen, dass (vorübergehender) materieller Verzicht erträglich wird, wenn dafür Freiheit, Selbstrespekt und Würde zurückgewonnen werden.

Die erlernte Hilflosigkeit

Ein zentrales psychologisches Konzept, das im Zusammenhang mit der Abhängigkeit vom Sozialstaat und seinen Bürokratien eine Rolle spielt, ist das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit. Es geht davon aus, dass Individuen infolge von Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit ihre Verhaltensweisen massiv einengen, indem sie als unangenehm erlebte Zustände nicht mehr abstellen, obwohl sie es objektiv betrachtet könnten. Das von Martin Seligman und Steven Maier 1967 entwickelte Konzept bezeichnet die Erwartung eines Individuums, bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen zu können. Das Individuum erfährt einen Kontrollverlust, indem eine ausgeführte Handlung und die daraus resultierende Konsequenz als unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Diese Erwartung beeinflusst das weitere Erleben und Verhalten des Individuums und kann sich in motivationalen, kognitiven und emotionalen Defiziten manifestieren (Seligman, 1975). Spürbare Folgen des Verhaltens sind zunehmende Passivität und Initiativlosigkeit.
Entscheidungsspielräume und Handlungsspielräume werden zunehmend eingeschränkt. Die Fähigkeit, frei und verantwortlich zu handeln, verkümmert.
Die Folgen sind Abhängigkeit und zunehmende Fremdsteuerung. Beides steht im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht der sozialstaatlichen Institutionen, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe und rasche Rückführung arbeitslos gewordener Menschen in selbstgesteuertes Handeln und Eigenverantwortlichkeit zu gewährleisten.

“Starker Staat für starke Bürger”

(aus einem meiner Beiträge zur aktuellen FDP-Leitbilddiskussion)
[…] Ich denke, dass sowohl das liberale Staatsverständnis, wie auch das liberale Menschenbild Alleinstellungsmerkmale darstellen, die wir zur Profilierung herausarbeiten sollten.
“Starker Staat” ist ein konsequenter Rechtsstaat, der seine Funktionen auf wenige Bereiche begrenzt und bürgerschaftlichem Engagement möglichst große Freiräume lässt. Der starke Staat ist somit souverän und selbstbegrenzt, aber konsequent und entschlossen im Schutz und in der Förderung seiner Bürger.
Das liberale Menschenbild ist ein positives, das Menschen Kompetenz und Vernunft zuspricht und damit Würde garantiert, die sich aus freier Selbstbestimmung ergibt.
Diese Konzepte unterscheiden sich klar von schwarzen, roten und grünen Vorstellungen:
Ein diffuser Nanny-Staat, der krebsartig in alle Lebensbereiche hineinwuchert, der versorgt und betreut, vorschreibt und regelt bis zum Exzess, dabei aber immer weniger bewältigt, immer höhere Erwartungen weckt und diese immer schlechter bedient und damit Frustration und Staatsverdrossenheit hervorruft.
Ein Bürger, dem man weder Vernunft, noch Kompetenz, weder Bereitschaft, noch Befähigung zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zutraut und ihn deshalb in fürsorglich-betreuender Absicht zunehmend infantilisiert und damit seiner Würde beraubt.
Liberales Leitbild bleibt der Homo sapiens und wird weder der Homo demenz noch der Homo infantilis. […]

Für einen neu durchdachten freiheitlichen Strafvollzug.
 
Einer der Attentäter von Paris hat uns wieder bestätigt, was wir längst wussten: Unser Strafvollzug leistet keine Resozialisierung, sondern ist ein Ort, an dem Kleinkriminelle sich durch den Kontakt mit anderen Kriminellen verstärkt radikalisieren und erst recht dauerhaft auf die schiefe Bahn gebracht werden. Viele Inhaftierte werden erst in unseren Strafvollzugsanstalten zu Kriminellen gemacht. Der Knast wird häufig genug eine Hochschule für Straftäter.
Aber auch Inhaftierte, die sich nicht kriminalisieren lassen, werden durch die Umstände der Haft dauerhaft psychisch und oft auch physisch geschädigt. Im Knast herrscht ein ständiges latentes Klima von Gewalt. Körperverletzung ist an der Tagesordnung, Inhaftierte werden zu sexuellem Verkehr gezwungen, gedemütigt, bedroht. Zudem führt der Freiheitsentzug durch langfristige Naturdeprivation und das Eingesperrtsein in engen hässlichen Zellen mit offenen Toilettenschüsseln im Wohnbereich, häufig ohne eigene Dusche usw. zu dauerhaften psychischen Schäden.
Eine wirkliche wirksame Resozialisierung findet hingegen in der Regel nicht dauerhaft statt.
Wir sollten als Freie Demokraten über die gängige menschenunwürdige Praxis des Strafvollzugs in unserem Land hinausdenken, Alternativen erwägen und auch traditionelle Grundsätze des Strafvollzugs in Frage stellen.
Müssen wir als freiheitliche Demokraten heute noch den Grundsatz der Buße für eine Straftat vertreten? Ich denke nicht. Moderne freiheitliche Rechtsprechung muss m.E. drei Ziele verfolgen:
Erstens: Eine Schadensbereinigung samt Opferhilfe und Wiedergutmachung einer Straftat (soweit nachträglich möglich) zu erreichen
Zweitens: Eine wirksame Therapie und Resozialisierung des Straftäters zu leisten und
Drittens: Wirksame Verbrechensprophylaxe und Sicherheit der Bevölkerung sicherstellen.
Daraus folgt: Der Straftäter soll nicht mehr eine Strafe büßen, sondern er soll durch Verurteilung angehalten sein, Schäden seiner Straftat vor allem gegenüber den Opfern zu kompensieren und durch aktive Beiträge Wiedergutmachung zu leisten. Die Rechtsprechung der Nachkriegszeit war aus meiner Sicht eindeutig täterfixiert. Opfer kamen in der Regel zu kurz – sie blieben auf ihren Schäden sitzen. Lediglich Opferschutzorganisationen wie der „Weiße Ring“ haben bisher Opferinteressen vertreten. Straftäter wurden weggesperrt, die erheblichen Kosten trug die Öffentlichkeit – der Steuerzahler.
Im freiheitlichen Strafvollzug werden Haftstrafen nur noch für bestimmte gemeingefährliche Tätergruppen verhängt, sowie für solche Täter, die ihren Verpflichtungen zur Schadenskompensation mehrfach und dauerhaft nicht nachkommen. Für sie ist die Haft Beugehaft.
Alle anderen verurteilten Straftäter fallen nicht mehr dem Steuerzahler zur Last, sondern sind als Freigänger verpflichtet, erhebliche Wiedergutmachungsleistungen gegenüber den Opfern und der Öffentlichkeit zu erbringen. Sei es durch finanzielle Leistungen, sei es durch erbrachte Arbeitsleistungen. Zudem sind sie verpflichtet, sich Therapie- und Resozialisierungsmaßnahmen zu unterziehen. Ein Thomas Middelhoff und ein Uli Hoeneß gehören nicht auf Kosten der Steuerzahler in den Knast. Sie nützen dort niemandem. Sehr wohl aber können sie durch Strafzahlungen einen erheblichen Beitrag zur öffentlichen Wohlfahrt leisten. Ebenso gehört der alkoholisierte Autofahrer, der Personenschaden verursachte, oder der fahrlässige Ingenieur oder der Familienvater, der im Affekt Totschlag beging, nicht in den Knast. Sie alle sind nicht potenziell gemeingefährlich. Sie können aber alle aktive Wiedergutmachung leisten und sei es, indem sie eine heruntergekommene Schule durch Eigenarbeit sanieren oder (bei entsprechender Qualifikation und Persönlichkeitsstruktur) Alte und Pflegebedürftige betreuen.
Für die Gruppe der gemeingefährlichen Schwerkriminellen bleibt die Haftstrafe die einzige Option. Unter Umständen bis zum Lebensende, denn Schutz der Öffentlichkeit muss Vorrang haben vor dem Recht des Straftäters auf Freilassung. Allerdings muss der Vollzug menschenwürdig sein und einer kultivierten Gesellschaft angemessen. Therapie und Sozialintegration müssen einen hohen Stellenwert haben. Inhaftierte müssen zudem die Möglichkeit haben, durch Eigenarbeit erhebliche zusätzliche Privilegien innerhalb ihrer Unterbringung erwirtschaften zu können. Außerdem müssen sie an vielen sozialen Aktivitäten und Bildungsangeboten partizipieren können.
Fazit: Wir brauchen eine liberale Neuausrichtung von Verbrechensbestrafung und Strafvollzug. Sie müssen sich am Grundsatz der Humanität orientieren. Ebenso am Grundsatz der Wiedergutmachung. Hierbei müssen Opferinteressen im Mittelpunkt stehen. Der Straftäter soll nicht büßen, sondern aktiv an der Wiedergutmachung seiner Straftat, seiner Therapie und Resozialisierung mitarbeiten. Er wird hierdurch aktiviert, motiviert und zu konstruktiven, gemeinwohlorientierten Beiträgen angehalten, die letztlich in seinem eigenen Interesse liegen.

Im Garten der Sinnfindung


Die Naturwissenschaft sagt uns, dass unser Existenzgrund im Weiterleben unserer Gene besteht. Wir sind da, um zu überleben, um uns gegen Konkurrenten durchzusetzen, um uns fortzupflanzen, um unsere Nachkommen erfolgreich aufzuziehen, um schließlich zu sterben, damit unsere Nachkommen ihrerseits erfolgreich ihre Nachkommen aufziehen können, die dann ihrerseits ihre Nachkommen aufziehen werden…
Ist das reine Fortbestehen im Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens also der eigentliche Sinn und Zweck unserer Existenz?
Viele Menschen finden ihren Lebenssinn in Gott. Für sie ist ein gottgefälliges Leben nach göttlichen Gesetzen Lebenssinn und Lebenszweck.
Welche Lösung auf die Sinnfrage finden aber Menschen, die der Überzeugung sind, dass es keinen Gott gibt?
Viele weichen einer Auseinandersetzung mit der Sinnfrage und letztlich auch mit sich selbst aus. Sie „funktionieren“ zwar im Alltag unauffällig weiter, doch haben sie im Sinne der Existenzphilosophie Martin Heideggers eine Existenzform der „Uneigentlichkeit“, also eine nicht authentische Lebensweise gewählt. Viele dieser uneigentlichen, nicht authentischen Menschen begegnen uns häufig. Manche prägen und bestimmen unsere Gesellschaft. Das öffentliche Leben selbst wird wird uneigentlich und unauthentisch.
Viele Menschen flüchten sich in die Sucht. Sie werden anhängig von Drogen, von Glücksspielen oder von Pornografie. Gerade die neuen Technologien eröffnen Impulskontrollstörungen ein breites Potenzial. Immer mehr dieser Menschen flüchten in Scheinwelten und entziehen sich der Realität. Auch sie prägen eine Gesellschaft des Unwirklichen, des bloßen Scheins.
Andere Menschen reagieren mit Zynismus. Zyniker sind Menschen, die zwar eine große Sinnleere in ihrem Leben empfinden, das Leiden daran und jedes Mitleid für Andere jedoch unterdrücken. Ihr Leben wird dann nur noch von Sachzwängen und dem Selbsterhaltungstrieb vorangetrieben. Auch die Gesellschaft der Zyniker ist unmenschlich, weil bar jeden Mitgefühls und menschlicher Empathie.
Wieder andere Menschen reagieren verzweifelt. In einer solchen Verfassung droht das Leben zu scheitern. Es kommt zu einer chronischen oder akuten Lebensunfähigkeit, Lebensverneinung oder Lebensverweigerung. Mögliche Folgen können Depressionen und Suizid sein. Die Gesellschaft der Verzweifelten ist ein Jammertal der Hoffnungslosigkeit und der Wehleidigkeit.
Schließlich gibt es die „Akzeptiert Hoffnungslosen“, die der Auffassung sind, das Leben habe a priori keinen Sinn und sei an sich absurd. Diese Menschen bewerten ihr Leben als weder gut noch schlecht, sondern haben sich mit der Absurdität ihrer Lage abgefunden und sind zum begrenzten Genuss der Datschenidylle ihrer Absurdität in der Lage.
Wenn wir durch die Straßen unserer Großstädte gehen, begegnen uns alle diese Menschen: Die nichtauthentischen Uneigentlichen, die Süchtigen, die Zyniker, die Verzweifelten und die Akzeptiert-Hoffnungslosen. Die Gesellschaft, in der sie sich bewegen und die sie prägen, ist ein Spiegelbild ihres inneren Seins: Nichtauthentisch und uneigentlich, irreal und weltfremd, zynisch und verzweifelt. Und grau, unendlich grau.
Die Religiösen nennen dies eine gottlose Welt. Eine Welt ohne Gott.
Haben die Religiösen am Ende Recht?
Sie hätten vielleicht Recht, wenn es nicht die anderen Menschen gäbe und nicht die gänzlich andere Welt.
Diese Menschen führen ein Leben in Freiheit und Würde. Sie bestimmen selbst den Sinn ihrer Existenz. Nach Viktor Frankl kann der Mensch seinem Leben prinzipiell in jeder Situation Sinn abgewinnen oder seinem Leben Sinn geben, solange er bei Bewusstsein ist. Der ehemalige KZ-Häftling sagte: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Dies gelte selbst für Extremsituationen. „Was ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was er ist.“ Ebenso wie Frankl sah auch Karl Jaspers in der Freiheit und dem Bewusstsein der Verantwortung den maßgeblichen Willensakt.
Im Zentrum der eigenen Sinngebung können unterschiedliche Konzepte stehen: Freiheit oder Verantwortung, Selbstverwirklichung oder Entwicklung, Menschlichkeit , Gerechtigkeit oder Frieden.
Immer sind wir selbst es aber, die unserem Leben einen Sinn geben, die unser Leben nach den selbstgewählten Konzepten ausrichten. Ein solch bewusstes, selbstsicheres Leben ist alles andere als grau. Es ist bunt, schillernd, mitunter ein wenig schrill und grell und vielfältig wie das Leben selbst. Sinnerfülltes Leben ist wie gärtnern im Garten der Menschlichkeit. Wir haben unsere Sinne, unseren Körper, unsere Emotionen.
Wir haben die Freiheit und die Chance, unsere Möglichkeiten zu leben.
Nutzen wir sie!

Neun Thesen zu einer liberalen Bildungspolitik

In Ruhe und Gelassenheit

Unsere Mittelschichtkinder werden heute mehr als optimal gefördert: Musik, Kunst, Schwimmen, Reiten, Tennisspielen. Jede Aktivität ist wichtig für die Gehirnentwicklung, die Feinmotorik, die Sprachentwicklung. Eltern investieren viel Zeit und Geld in die diversen Förderprogramme. Denn jede mögliche Förderung ist wichtig und muss sein. Mitunter schon durch die Bauchdecke während der Schwangerschaft.
Die Folge dieser Förderung sind eine voller Stundenplan und Stress schon im Kindesalter. Schätzungen zufolge zeigen drei bis zehn Prozent depressive Symptome. Den Kindern fehlt Zeit zur ruhigen, von ihnen selbst ausgehenden Entwicklung. Viele Kinder und Jugendliche empfinden die Förderung als Überforderung, der sie nicht gewachsen sind. Die Eltern reagieren auf die Störungen ihres Nachwuchses mit einer breiten Therapiepalette: Logopädie, Physio- und Ergotherapie, LHS-Training, Dyskalkulie-Therapie, Anti-Aggressions-Training, BrainGym und Spieltherapie. Zusätzlich wartet viel zu häufig die chemische Keule in Form von Methylphenidat – Ritalin, die Wunderwaffe.
Ritalin hat viele unerwünschte Nebenwirkungen, wie wir heute wissen. Doch der ganze Therapiezirkus hat es auch. Kinder und Jugendliche verlieren ihre Zeit. Zudem sind sie weitgehend fremdbestimmt und manipuliert. Durch ständiges Therapieren selbsterzeugter Symptome werden sie zudem pathologisiert, zum behandlungsbedürftigen Störfall erklärt. Durch das nicht enden wollende Investment der Eltern wird zudem ein ständig wachsender Erwartungsdruck erzeugt: Kinder und Jugendliche sollen sich ständig verändern. Niemals können sie diesem Veränderungsdruck gerecht werden. Die Folgen sind Ängste, Depressionen bis hin zum Suizid.
Eltern verfahren nach dem Motto: Viel Input erzeugt viel Output. Doch das Optimum wird sehr häufig weit überschritten. Wie wir wissen, erzeugt Überfütterung bestenfalls Brechreiz. Was Kindern und Jugendlichen heute fehlt, sind Raum und Zeit zur eigenen Entwicklung, echte Beziehungen zu authentischen Bezugspersonen, Gelassenheit und Freiraum.
Sie brauchen keine Eltern, die sie in gutgemeinter Absicht überbehüten, sie vor Gewalt, Pornografie und anderen vermeintlichen Übeln dieser Welt beschützen wollen. Zur gesunden Entwicklung gehört die Konfrontation, die Auseinandersetzung mit Lebenswelt. Minderjährige müssen ihr eigenes psychisches Immunsystem entwickeln. Dazu müssen sie Erfahrungen machen können. Überprotektion macht sie zu psychischen Autisten.
Die Fremdbestimmung im Jugendalter führt zu mangelndem Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Wir übertragen unseren Perfektionismus und unsere Atemlosigkeit auf unseren Nachwuchs. Der kann die Erwartungen niemals erfüllen. Die Folge ist ein ständiges Insuffizienzgefühl: Das Empfinden, nie zu genügen wird zur Drehscheibe der gestörten Identität.
Lassen wir unsere Kinder in Ruhe! Lassen wir ihnen Freiraum zur Entwicklung und Zeit. Kinder und Jugendliche lernen von ganz allein, forschen und entdecken völlig aus eigenem Antrieb. Wir können sie fördern, indem wir ihnen hier und da Impulse liefern, sie gelegentlich mit Ausschnitten der Welt konfrontieren. Mehr bedarf es nicht. Alles andere leisten sie ganz allein, nach eigenem Tempo und eigenem Fokus. Ohne unsere Regie werden sie Erfolge und Misserfolge feiern. Und gerade die Misserfolge werden es sein, die sie voranbringen.
Treten wir den Rückzug an. Viel öfter sollten wir unseren Nachwuchs einfach nur beobachten. In Ruhe und Gelassenheit, unangestrengt und unaufgeregt. Nicht mehr und nicht weniger.

Neun Thesen zu einer liberalen Bildungspolitik

1.Bildung braucht Strukturvielfalt: Eine Bildungslandschaft vielfältiger Angebote, die der Unterschiedlichkeit der Menschen, ihrer Möglichkeiten und Ziele gerecht wird. Staatliche, halbstaatliche und private Träger konkurrieren innerhalb eines gesellschaftlich definierten Rahmens um bessere Lösungen. Fremdfinanzierung der Bildungslandschaft muss möglich sein, damit eine ausreichende finanzielle Ausstattung einer qualitativ hochwertigen Bildung möglich wird.
2. Strukturelle Vielfalt steht nicht im Widerspruch zu einer bundesweit vereinheitlichten Rahmengesetzgebung. Sechzehn verschiedene Bildungspolitiken der Länder führen zu teuren und ineffektiven Ergebnissen. Wir brauchen einen gemeinsamen bundespolitisch definierten Rahmen, in dem dann kulturelle Vielfalt möglich wird.
3. Bildung ist Lebensaufgabe und muss individuell auf die Menschen in allen Lebensaltern abgestimmt sein. Wir setzen auf ein differenziertes Bildungsangebot von der Vorschulerziehung bis zur Seniorenbildung, das unterschiedliche Bildungsnachfrage aller Altersgruppen ausreichend bedient.
4. Bildung muss sich primär am Individuum orientieren, an seinen individuellen Leistungsstärken und -schwächen, an seinen individuellen Bedürfnissen und Lebensplanungen. Wir setzen auf Bildung in der Breite ebenso wie auf Bildung in der Spitze. Jeder Mensch muss entsprechend seiner individuellen Begabungen und Neigungen optimal gefördert werden. Bildung bedeutet deshalb nicht Gleichmacherei, sondern gezielte Entwicklung des Unterschiedlichen.
5. Bildung braucht Bezug zur Lebenswelt. Sie muss sich verstärkt an individuellen Erfahrungen und lebensweltlichen Realitäten orientieren, insbesondere an Qualifikationsansprüchen der Wirtschaft und der Arbeitswelt. Sie darf sich aber nicht auf reinen Funktionalismus beschränken. Bildung muss wieder verstärkt ganzheitlich ausgerichtet sein.
6. Bildung ist nicht nur kognitiv, sondern ebenso emotional und affektiv auszurichten. Gerade in der politischen Bildung sind Optimismus und Motivation zum gemeinwohlorientierten und wirtschaftlich nachhaltigen Leben von zentraler Bedeutung. Liberale Bildungspolitik setzt ganz gezielt auf die Vermittlung von Einstellungen und Wertstrukturen.
7. Bildung braucht neue methodische Konzepte. Frontalunterricht von Großklassen mit Dompteursgehabe, das im akustischen Chaos endet und passiven Konsumismus oder Totalverweigerung der Schüler und Studenten zur Folge hat, darf keine Zukunft mehr haben. Der Lehrer der Zukunft ist vor allem Berater, Initiator und Animator individuell ausgerichteter aktiver und explorativer Lernunternehmungen der Schüler und Studenten, die unter Anleitung ihren eigenen Lernerfolg planen und organisieren.
8. Bildung braucht Wahlfreiheit. Schüler und Studenten müssen sich ihre Lerninstitutionen aussuchen können. Bildungsinstitutionen müssen sich ihre Schüler und Studenten aussuchen können. Lernende müssen sich Lehrende aussuchen und sie abwählen können. Lehrende müssen sich ihre Lernenden aussuchen können. Lernbeziehungen können so auf einer Grundlage gegenseitiger Neigung und gegenseitigen Vertrauens errichtet werden.
9. Das Curriculum muss im Kontext bundespolitischer Rahmengesetzgebung offen sein und von Lehrenden wie Lernenden, aber auch von den Bildungsträgern gestaltet werden können. Es muss flexibel sein, um sich verändernden Bildungsanforderungen und Bildungsnachfragen anpassen zu können.

Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!

Persönlichkeitsbildung und menschlicher Adel
Karl Jaspers schrieb 1930 in „Die geistige Situation der Zeit“: Die Frage, ob menschliche Würde noch möglich sei, ist identisch mit der Frage, ob noch Adel möglich sei.“ Jaspers verstand unter dem Begriff nicht den Geburtsadel, sondern eine geistig-moralische Elite, die verkörpere, was edel und gut am Menschen sei. „Die Besten im Sinne eines Adels des Menschseins sind nicht schon die Begabten, welche man auslesen könnte, […], nicht schon geniale Menschen, die außergewöhnliche Werke schaffen, sondern unter allen diesen die Menschen, die sie selbst sind, im Unterschied von denen, die in sich nur eine Leere fühlen, keine Sache als die ihre kennen, sich selber fliehen. Es beginnt heute der letzte Feldzug gegen den Adel. […] Man möchte die Entwicklung rückgängig machen, die für das Wesen der neueren, aber jetzt vergangenen Zeit gehalten wird, die Entfaltung der Persönlichkeit.“
Jaspers schrieb dies in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus, in der Spätphase der Weimarer Republik. Die Fragen, die er stellt, sind allerdings heute so aktuell, wie sie es damals waren. Sie scheinen zeitlos gültig. Wir leben heute in einer Massengesellschaft, in der Gleichheit über Freiheit dominiert. Es zählt die Mehrheitsentscheidung, die Quote, nicht die Entscheidung für Qualität. Das Herausragende, die Spitzenleistung, wird kritisch beargwöhnt. Das Individuelle, Originelle ist vielen suspekt. Identifikationsobjekte sind Marken: Das Lacoste-Shirt und der Mercedesstern. Nicht die Genialität eines forschenden Wissenschaftlers. Die Kultur der Massengesellschaft ist eine Kultur des Mittelmaßes, bestenfalls. Oft genug dominiert das menschenunwürdig Banale.
Unsere demokratischen westlichen Gesellschaften tun sich schwer mit Eliten. Bestenfalls werden noch Leistungseliten akzeptiert, deren Erfolg sich quantitativ bemessen lässt. Aber wie steht es mit dem Adel im Sinne Karl Jaspers? Schätzen wir Menschen noch für das Edle ihres Denkens und Empfindens, für das Gute Ihres Tuns? Ist die Entfaltung der Persönlichkeit noch eine Leitkategorie in Bildung und Erziehung in unseren Schulen – oder doch längst die bloße Funktionalität des „Wertvoll ist, was Geldwert schafft“?
Für Karl Jaspers waren die Besten „im Sinne des Adels des Menschen“ jene, „die sie selbst sind“. Dies war weniger eine Leistungselite, als eine Bewusstseinselite, eine Entfaltungselite, eine Freiheitselite und vor allem eine Verantwortungselite.
Wie stehen evolutionäre Humanisten zum Konzept der Elite? Vertreten wir eine Zielrichtung der Persönlichkeitsbildung? Haben wir eine Vorstellung davon, was eine gute, menschliche Entwicklung ausmacht? Welche Rolle spielt die Entfaltung unserer Anlagen und Möglichkeiten? Das Ausleben menschlicher Vielfalt? Die individuelle Eigentlichkeit? Gibt es für evolutionäre Humanisten einen Begriff des menschlichen Adels im Sinne Karl Jaspers?

Zurück zur Charakter- und Verantwortungskultur!
Psychologie und gesellschaftliches Leben des Neunzehnten Jahrhunderts waren tief geprägt vom Konzept des menschlichen Charakters. Menschlichem Empfinden, Denken und Handeln wurden Attribute zugeschrieben – es gab Menschen mit gutem, weniger gutem und schlechtem Charakter. Menschen wurde Entscheidungsgewalt zugeschrieben und damit die Fähigkeit, verantwortlich zu handeln: Menschen galten als frei in ihrem Tun und trugen Verantwortung.
Seit den 1890er Jahren erlebten wir eine schleichende Erosion der Verantwortungskultur durch die Sozialwissenschaften, die Anthropologie, aber auch die Psychologie. Die Umwelt galt nun als prägender Faktor menschlichen Handelns, die soziokulturellen Bedingungen, unter denen man aufwuchs, die soziale Schicht. Menschliche Taten wurden an der Biografie gemessen – die „schwierige“ Kindheit wurde häufig als Entschuldigungsgrund für menschliche Verfehlungen gesehen. Die Prägung durch Lebensumwelt galt nun als entscheidend. Charakter verlor an Bedeutung.
Mit dem Charakter verfiel auch die Verantwortungskultur. Verantwortung für menschliches Handeln wurde relativiert, die Herkunft und soziale Lage wurden verantwortlich gemacht, dann die falsche Erziehung durch die Eltern. Heute dienen Erkenntnisse der Neuropsychologie und Hirnforschung der Absolution menschlicher Schuld: Wenn das Unterbewusste unser Handeln prägt und Verhalten als elektrochemische Vorgänge an den Synapsen der Nervenzellen verstanden wird, ist der Mensch dann überhaupt noch frei in seinen Entscheidungen und verantwortlich für sein Handeln?
Bedingt durch dieses Menschenbild rückte das Schlechte menschlicher Existenz in den Fokus. Es galt und gilt, Benachteiligungen zu beseitigen, Behinderungen zu erkennen, menschliche Schwächen und Defizite herauszustellen. Der Mensch wird zunehmend als Opfer gesehen und menschliches Leben zunehmend pathologisiert. Mit dem Verfall des Charakterkonzeptes geriet das Edle, Gute, Starke und Gesunde menschlichen Seins in Vergessenheit. Wo uns früher die Zukunft antrieb zu Spitzenleistungen und menschlicher Größe, sind wir heute Gezogene unserer leidvollen Vergangenheit.
Viel zu lange war unsere Psychologie zentriert auf die Störung und das Leiden, auf negative Gefühle, auf das Pathologische und Tragische, die Entfremdung, die Depression und die Angst. Viel zu lange haben wir Menschen als Opfer gesehen, als hilflos Getriebene, tendenziell unfrei und verantwortungslos.
Die Humanistische Psychologie richtet den Fokus wieder auf das Gute im Menschen, auf positive Gefühle, positives Denken und Handeln, positive menschliche Beziehungen. Freier Wille, Entscheidung und Verantwortung sind tragende Konzepte dieser Positiven Psychologie. Der Charakter als prägender Bestandteil menschlicher Existenz gewinnt wieder an Bedeutung, damit auch charakterliche Bildung und Erziehung und Konzepte wie Belohnung und Strafe. Charakterstärke, Tugend und Talent sind wieder Orientierungsgrößen, ebenso Persönlichkeitsentfaltung, Leistung und Entwicklung. Menschliche Möglichkeiten liegen im Zentrum humanistischer Betrachtung: Wir sind nicht Getriebene unserer Vergangenheit, sondern aktive Gestalter unserer Zukunft.


Freiheitlicher Humanismus und humanistischer Liberalismus?
Den verschiedenen Strömungen des Humanismus ist ein menschenfreundliches und optimistisches Menschenbild zu eigen, das davon ausgeht, menschliches Leben verbessern zu können. Grundlage humanistischer Konzeptionen ist ein Gesellschaftsmodell, das Menschen die bestmögliche Persönlichkeitsentfaltung garantiert. Damit verbindet sich Kritik an bestehenden politischen und sozioökonomischen Verhältnissen, die aus humanistischer Sicht diesem Ziel entgegenstehen. Zentraler Kernbestandteil jeder humanistischen Konzeption sind Bildung und Aufklärung, die menschliche Emanzipation und die Entfaltung der reifen, freien, verantwortlichen Persönlichkeit anstreben.
Der Liberalismus ist eine politische und sozialphilosophische Bewegung, die eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung anstrebt. Leitziel des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Machtapparaten. Neben dem Konservatismus und dem Sozialismus wird er zu den drei großen politischen Ideologien gezählt, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa herausgebildet haben. Die individuelle persönliche Freiheit ist nach liberaler Überzeugung die Grundnorm einer jeden menschlichen Gesellschaft, auf die hin Staat und Gesellschaft ihre politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung auszurichten haben. Dabei wird unter Freiheit zunächst vor allem die Abwesenheit jeglicher Gewalt und jedes Zwangs verstanden, insbesondere von staatlicher Seite. In einem engeren Sinne liberalistischer Positionen beschränkt sich die Rolle des Staates auf den konkreten Schutz der Freiheit der Individuen und der die Freiheit garantierenden Rechtsordnung.
Freiheit bedeutet nach liberalem Verständnis nicht nur „Freiheit von“, sondern vor allem auch „Freiheit zu“, also nicht nur Abwesenheit von staatlichem und gesellschaftlichem Zwang, sondern auch die Befähigung zu einem selbstbestimmten und würdevollen Leben in Verantwortung. Verantwortung für sich selbst und für andere ist der Kernbestandteil jeder liberalen Botschaft: Ohne Verantwortung ist Freiheit nicht möglich.
Humanismus und Liberalismus, so verstanden, zielen auf dasselbe ab: Basierend auf der Grundannahme, dass der Mensch sich in Freiheit am besten und wirkungsvollsten zu einer verantwortlichen, reifen Persönlichkeit entfalten kann, die der menschlichen Natur entspricht, streben sie eine Veränderung staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse an, die dem Leben in Freiheit, Verantwortung und menschlicher Würde besser entspricht. Zentrales Element dieses freiheitlich-humanistischen Anspruchs ist die aufklärerische Bildung.
So verstanden, ist wahrer Liberalismus immer humanistisch geprägt, während andererseits wahrer Humanismus immer freiheitlich geprägt ist. Ein antihumanistischer Liberalismus ist folglich ebenso denkunmöglich, wie ein antifreiheitlicher Humanismus. Humanismus und Liberalismus bedingen einander. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille.
Macht es deshalb Sinn, von Freiheitlichem Humanismus zu sprechen, wenn es einen unfreiheitlichen Humanismus eigentlich nicht gibt? Macht es Sinn, von Humanistischem Liberalismus zu sprechen, wenn es einen antihumanistischen Liberalismus eigentlich nicht gibt? Beide Begriffe wirken redundant, etwa wie „Trächtige Schwangerschaft“. Sollten sie deshalb vermieden werden?
Ich denke, sie sind solange sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht unerhebliche Strömungen gibt, die einen Liberalismus vertreten, der antihumanistisch geprägt ist und menschliche Würde und sozialen Zusammenhalt nicht ausreichend respektiert. Sie sind ebenfalls solange sinnvoll und auch notwendig, wie es nicht unerhebliche Strömungen gibt, die einen unfreiheitlichen Humanismus vertreten, der mehr auf den Staat und das Kollektiv abzielt, als auf das Individuum, und der eher an Gesetze und staatliche Reglementierung denkt, als an den einzelnen, eigenverantwortlichen Bürger.
Solange es diese Positionen gibt, denke ich, kann es nicht schaden, sich als humanistischer Liberaler zu bezeichnen und als freiheitlicher Humanist. Selbst, wenn man das Gefühl hat, es klingt wie „eine trächtige Schwangere“…

Die Furcht vor der Freiheit
Die Auflösung der vor-individuellen Gesellschaft und die Abschaffung des Obrigkeitsstaates haben den Menschen ein Ausmaß an Freiheit beschert, das jahrhundertelang völlig unvorstellbar schien und die optimistischsten Erwartungen übertroffen hat. Mit dem Sieg über den Nationalsozialismus und der unblutigen Revolution gegen das SED-Regime wurden zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden und die Freiheit erkämpft.
Doch die Menschen tun sich schwer mit der erkämpften Freiheit. Das freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und die zunehmenden Globalisierungsprozesse haben zu massiven Unsicherheitsgefühlen, Bindungsverlusten und Orientierungsproblemen geführt, die neue Ängste heraufbeschwören und die Menschen zurücktreiben in scheinbar überwundene Muster kollektiver Zwangssysteme, in Konformismus, Destruktivität und sie sich neuen Autoritäten unterwerfen lässt.
Der Psychologe und Sozialphilosoph Erich Fromm legte 1941 eine sozialpsychologische Studie mit dem Titel „Die Furcht vor der Freiheit“ vor, in der er das Hinabgleiten in das diktatorische Unrechtsregime als eine Folge von Fluchtbewegungen analysierte, die aus zunehmender Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst resultierten. Die Freiheit habe dem Menschen zwar Unabhängigkeit und Rationalität gebracht, aber auch zu massiven Überforderungen geführt. Der Mensch habe es noch nicht vermocht, sein individuelles Selbst zu verwirklichen und seine intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Fromm gelangte somit zu einem doppelten Freiheitsbegriff: Freiheit von Unterdrückung müsse nicht zwangsläufig mit einer Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben einhergehen, sondern löse unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen antiliberale Fluchtmechanismen aus.
Folgen der „Furcht vor der Freiheit“ können wir in unserer heutigen Gesellschaft allgegenwärtig studieren. Die weit verbreitete Neigung zum Konformismus, zum Abschieben von Verantwortung an den Staat und seine Verwaltungen, das Unterwerfen unter fragwürdige Autoritäten und kollektive Zwangssysteme, bürokratische Regeln und Gesetze haben zu einem massiven Freiheitsverlust im persönlichen Leben und zu einer Lähmung menschlicher Kreativität und Schaffenskraft geführt, die Potenziale brachliegen lässt und uns damit wertvoller Entwicklungsoptionen beraubt. Mit unserer Neigung, uns ständig unter Nannys Schürze zu flüchten, stellen wir uns selbst zunehmend ins Abseits.
Aus humanistischer Sicht, die den menschlichen Anspruch auf selbstbestimmte Verantwortlichkeit ernst nimmt, ist gefordert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und ggf. zu verändern, unter denen die Nanny-Kultur gedeiht. Wir müssen die vorhandenen Ängste der Menschen ernstnehmen, ihre Sicherheitsbedürfnisse respektieren und ihren Entfremdungstendenzen, Orientierungs-, Sinn- und Bindungsverlusten durch konkrete lebensweltliche Angebote entgegensteuern. Ziel muss es sein, eine produktive Lebenskultur zu schaffen, indem sich im Sinne Erich Fromms eine gegen totalitäre Fluchtmechanismen immune „Freiheit zu selbstbestimmten Leben“ dauerhaft entwickeln kann.

Die Suche nach Sinn, Ziel und Richtung
Vor kurzem las ich in meiner persönlichen Mail folgendes:
“Du bist ständig auf Sinnsuche. Das ist typisch für Menschen die sich mit Psychologie beschäftigen. Warum lebst Du nicht einfach. Es muss doch nicht in allem ein Sinn stecken. Hauptsache ist doch man macht es gerne, wenn nicht, lässt man es halt. Und um existentielle Dinge kommt man nicht drum herum, auch wenn sie vielleicht in Deinen Augen keinen Sinn haben. Glaub mir, ohne ständige Sinnsuche ist das Leben einfacher. Liebe, lache, weine ohne Sinn!“
Einige Wochen vorher sprach ich mit einer sehr gläubigen Protestantin über Sinn, Ziel und Richtung des Lebens. Sie sagte, sie müsse über all dies nicht nachdenken. Der Sinn ihres Lebens sei Gott. Das Ziel ihres Lebens sei Gott. Die Richtung ihres Lebens sei Gott.
Und dann höre ich häufig von atheistischer Seite, Sinnsuche sei ein mystisches, pseudoreligiöses Unterfangen, das der rational denkende Mensch tunlichst vermeiden solle. Es gebe keinen Sinn im Leben. Unsere Existenz sei völlig absurd und sinnlos.
Ich teile diese Auffassungen nicht. Für eine psychisch gesunde Entwicklung einer reifen, erfüllten Persönlichkeit bedarf es einer Sinngebung, eines Lebenszieles und einer Lebensrichtung. Und Sinn, Ziel und Richtung sollten nicht verbindlich von außen vorgegeben sein, sondern müssen aus uns selbst kommen. Wir selbst bestimmen unseren Weg, aber damit wir uns nicht verirren in Beliebigkeit und abgleiten in Zynismus, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, brauchen wir diesen Halt, dieses Geländer. Dieses Geländer mag Gott sein. Im völligen Gottvertrauen zu leben, macht das Leben einfacher, weil ich nicht fragen muss, nicht hinterfragen muss, nicht suchen muss.
Der freie Mensch entscheidet sich für den schwierigeren Weg der Suche, aber gegen die Beliebigkeit und den Zynismus. Wir wachsen mit einer Aufgabe, der wir uns verschreiben, in deren Dienst wir uns stellen. Sie gibt unserem Leben Sinn, Ziel und Richtung. Sie verleiht unserem Leben Halt, Orientierung und Perspektive. Doch der gewählte Weg ist nie endgültig, die gewählte Aufgabe nie erfüllt. Ständig müssen wir uns neu fragen und hinterfragen. Ständig neu suchen. Die Suche nach dem Lebenssinn bleibt unsere Lebensaufgabe und der Weg dorthin unser Ziel.

Eine knappe Skizze unseres positiven humanistisch-freiheitlichen Ansatzes



Gibt es einen Sinn unserer Existenz?
Unsere Existenz hat a priori keinen Sinn, außer dem, den die Biologie uns wie allen anderen Lebewesen vorgibt: Wir sind Experimentalobjekte unserer Gene – mit unserer einzigartigen Kombination von Erbanlagen sollen wir uns in veränderten Umwelten bewähren. Unsere Bestimmung liegt darin, zu überleben und uns fortzupflanzen. Sind wir nicht erfolgreich, werden unsere Anlagen verschwinden, so wie wir selbst.
Außer dieser natürlichen Zweckbestimmung ist unser Leben völlig sinnlos. Es kann also in unserer Existenz nur den Sinn geben, den wir unserem Leben selbst verleihen: Wir selbst geben unserem Leben einen Sinn.

Was bestimmt unser Verhalten?
Unser Verhalten ist darauf ausgerichtet, zu überleben und uns erfolgreich und möglichst hochwertig fortzupflanzen. Unsere sämtlichen Verhaltensantriebe dienen letztlich diesem einen Ziel. Wir fragen heute nicht mehr, ob ein bestimmtes Verhalten angeboren oder erlernt ist, ob die Gene oder die Umwelt unser Verhalten bestimmen. Unser Tun und Nichttun, unsere Empfindungen und Wahrnehmungen, unser Denken und Wollen sind das Ergebnis eines vielschichtigen Wirk- und Regelmechanismus, der sowohl von unseren Anlagen, wie von unseren Umwelten ständig neu beeinflusst wird. Es sind offene Programme, die von unseren Erlebnissen ständig verändert werden. Wir machen Erfahrungen und wir lernen daraus. Wir sind unserer Existenz nicht hilflos ausgeliefert: Wir selbst haben einen Einfluss auf unsere Erfahrungen – wir wählen unsere Lebenswelten aus, die uns dann erneut prägen. Wir bestimmen, wo wir leben und wie wir leben. In den Grenzen, die das Schicksal uns gewährt, sind wir die Autoren unserer Lebensentwürfe.

Ist unser freier Wille nicht eine Fiktion?
Wir sind nicht völlig frei in unseren Entscheidungen. Unser Wahrnehmungen, unsere Empfindungen und unser Verhalten sind stark beeinflusst von unseren Anlagen und von unseren Lebensumwelten. Aber es gibt keine Automatismen. Wir haben Dispositionen, die uns anfällig und potenziell gefährdet für bestimmte Verhaltensweisen machen, aber sie zwingen uns nicht zu diesem Verhalten. Niemand muss zwangsläufig ein Gewaltverbrecher werden oder drogen- und spielsüchtig, eine Angsterkrankung bekommen oder depressiv werden. Wir können unser Leben sehr wirksam beeinflussen: Wir verfügen über nutzbare Quellen – Kräfte, die wir mobilisieren können, Verteidigungsmechanismen, die wir abrufen können und nicht zuletzt über unseren Verstand, den wir einsetzen können. Wir können denken, bevor wir handeln.

Was bedeutet unser positiver Ansatz?
In der Klinischen Psychologie beschäftigen wir uns mit Erkrankungen, mit Behinderungen und Störungen. Unser DSM, ein Handbuch zur Diagnose und Kategorisierung von psychischen Erkrankungen und Störungen, definiert Schubladen, in die wir Menschen mit ihren einzigartigen Persönlichkeiten und Biografien dann stecken. Wir definieren die Person also nach ihren Störungen, nach ihren Behinderungen, Fehlern, Schwächen und Mängeln.
Die Positive Psychologie hingegen rückt die Einzigartigkeit der Persönlichkeit mit ihren individuellen Stärken, Qualitäten, Kompetenzen und Bewältigungspotenzialen in den Mittelpunkt. Sie fragt etwa, warum manche Menschen besser als andere mit schweren Schicksalsschlägen, Erkrankungen und Verlusten zurechtkommen. Hier spielen Mechanismen des Wahrnehmens und Denkens eine zentrale Rolle, aber auch die psychosomatische Konstitution. Zentrale Begriffe der positiven Perspektive sind Glück, Optimismus und Kreativität. Der positive Therapieansatz versucht, Kraftquellen zu entdecken und zu fördern, Bewältigungsstrategien zu erlernen und unsere Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu verändern. Die Erkrankung selbst ist dabei weniger im Fokus als der Umgang mit ihr: Wir nehmen Diagnosen ernst – aber nicht so wichtig!

Welche Rolle spielt dabei unser Menschenbild?
Der Humanismus orientiert sich traditionell am Wahren, Schönen und Guten. Der Liberalismus betont den zentralen Wert der Freiheit für unser Leben. Wir glauben, dass wir in Frieden und Freiheit leben sollten, in menschenwürdigem und verantwortlichem Umgang miteinander, in Respekt vor der Natur und den Lebewesen. In einer friedlichen Welt und einer freiheitlichen Gesellschaft können wir am glücklichsten sein, am schöpferischsten und unser Potenzial am wirkungsvollsten entfalten.
Wir glauben, dass es Lebensweisen und Lebensumwelten gibt, die unserer menschlichen Natur mehr entsprechen als andere, die gedeihlicher und förderlicher für uns sind. Die Ursache der erschreckenden Zunahme von Erschöpfungsdepressionen (Burnout) sehen wir in einer Überforderung durch eine Lebensweise und Lebensumwelt, die unserer menschlichen Natur immer weniger gerecht wird: Es gibt immer mehr Menschen um uns herum, andererseits werden unsere sozialen Kontakte selbst immer oberflächlicher und unpersönlicher – wir vereinsamen in der Masse. Die Arbeitswelt verlangt ein immer schnelleres und perfekteres Funktionieren: Wir geraten unter Druck und fühlen und gehetzt, die Zeit läuft uns davon. Zudem sind wir zunehmend fremdbestimmt – immer mehr wird uns vorgegeben, die Möglichkeiten, frei und eigenverantwortlich zu handeln, werden immer mehr eingeschränkt. Wir leben zudem in vielfältiger Weise ungesund, unserer Nahrung, Lebenswelt und Arbeit entfremdet. Unsere Aufgabe sehen wir darin, diese Entwicklungen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken.

Donnerstag, 9. Juli 2015

Warum die FDP unverzichtbar ist


Wir kennen die Auswirkungen des fürsorglichen Staates schon lange: Verlust der autonomen Handlungsfähigkeit des Individuums, Verlust an Antrieb, Motivation, Eigenverantwortungsbereitschaft, Verlust an Würde. Wir kennen sie bestens von Menschen, die Sozialleistungen beantragt haben: Das Arbeitslosengeld II etwa, umgangssprachlich meistens „Hartz IV“ genannt – die Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Es soll diesem Personenkreis ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. In der Praxis sehen wir, dass genau dies in der Regel nicht der Fall ist, dass diese Menschen bei längerzeitigem Bezug dieser Sozialleistung vor allem eines verlieren: Ihre Würde.

Verlust an Würde droht immer, wenn der Bürger dem Staat als Sozialstaat oder Ordnungsstaat zu nahe kommt. Wer staatliche „Wohlfahrt“ in Anspruch nehmen möchte, muss sich nackt machen, sein Inneres nach außen kehren, Privatestes offenbaren. Er muss sich endlosen bürokratischen Ritualen unterziehen, gängeln lassen, sagen lassen, was er in Zukunft noch darf und was nicht mehr. Ein weitgehender Verlust an individueller Handlungsfähigkeit und –bereitschaft ist die Folge: Man richtet sich ein in „Hartz IV“, ist nicht länger autonom in seinen Handlungen und Bedürfnissen. Der Staat finanziert das kärgliche Leben – und bestimmt dafür, wo es lang geht. Die Folge ist das, was Martin Seligman die „gelernte Hilflosigkeit“ genannt hat: Den Verlust des Glaubens an die eigene Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung.

Im Moment erleben wir „gelernte Hilflosigkeit“ auf einer neuen Ebene: Der multinationalen. Griechenland als ehemals autonomer Staat hat sich dem Diktat der „Troika“ unterworfen, dem Kontrollgremium der Europäischen Union, das aus Vertretern der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfond und der EU-Kommission besteht. In ähnlicher Weise wie der langzeitige Grundsicherungsleistungsbezieher ist das Land längst seiner autonomen Handlungsfähigkeit beraubt. Griechenland ist von den Finanzinfusionen aus Brüssel abhängig. Es ist nicht länger zu eigenverantwortlichem Handeln in der Lage. Wenn es so etwas gibt wie nationale Würde – Griechenland hat es unter seiner sozialistischen Regierung und dem Brüsseler Diktat längst verloren.

Der Verlust an autonomer Handlungsfähigkeit, Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Würde ist ein Krebsgeschwür unserer Zeit. Wir erleben den freiheitsberaubenden Geist der Fürsorglichkeit nicht mehr nur gegenüber einzelnen Bürgern, sondern gegenüber ganzen Staaten. Unsere Politik vertraut der autonomen Freiheit und Selbstverantwortung nicht mehr. Eigenständigkeit und kreative Lösungskompetenz geht dadurch verloren. Wir erleben eine zunehmende Abhängigkeit aller von allem und dadurch eine Diffusion von Verantwortungsstrukturen. Unsere Politik ist zu einer Politik der Verantwortungslosigkeit und Unfreiheit geworden.

Die deutsche Bundesregierung, die „große“ Koalition aus CDU, SPD und CSU, zelebriert den Paternalismus. Das Zauberwort staatlicher Verhaltenssteuerung heißt „Nudging“. Der Begriff wurde vom Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und vom Rechtswissenschaftler Cass Sunstein in ihrem 2008 erschienenen Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ geprägt. Thaler und Sunstein plädieren für Paternalismus: Ausgehend von der empirischen Erkenntnis, dass menschliche Entscheidungen nur begrenzt rational sind und unweigerlich durch eine „Entscheidungsarchitektur“ beeinflusst werden, sollten die staatlichen Organe, die menschliches Verhalten beeinflussen können, dies so tun, dass das Gemeinwohl vergrößert werde. Diese paternalistische Beeinflussung von Menschen, so die Autoren, sei durchaus „libertär“, da dem Bürger jederzeit die Möglichkeit offen steht, sich gegen den Weg zu entscheiden, auf den er “gestupst” wird. Die Merkel-Regierung hat sich längst zum „Libertären Paternalismus“ bekannt und Sozialingenieure ins Kanzleramt berufen, die die neue Verhaltenssteuerung in Angriff nehmen sollen. Wer meint, der Behaviorismus sei überwunden, irrt. In Berlin, aber nicht nur dort, treibt er neue Blüten.

Neben „Nudging“, das unser Verhalten steuern soll, sagt uns „Political Correctness“, wie wir zu fühlen und zu denken haben. „Die Gedanken sind frei“ gilt längst nicht mehr. Politisch Korrektes „Neusprech“ hat längst Auswirkungen auf unsere Gedanken- und Gefühlswelt. Sozialingenieure des Staates und staatsnaher Leitmedien versuchen – mit beachtlichem Erfolg – Schritt für Schritt unsere Sprache zu verändern – und damit uns selbst.

Die gelernte Hilflosigkeit ist zu einem prägenden Agens der Zeitkultur geworden. Wir handeln deutlich unter unseren Möglichkeiten. Wir sind antriebsschwach geworden. Apathie und Behäbigkeit greifen um sich. Sie gehen einher mit einer zunehmenden Bedrücktheit und Larmoyanz. Wir sind kaum noch Gestalter unserer Welt. Wir sind zunehmend fremdbestimmte Leidende in unserer Welt, kraft- und mutlos.

Wir dürfen unsere Selbstbestimmung, unsere Autonomie und Würde nicht kampflos aufgeben. Der paternalistische Wohlfahrts- und Betreuungsstaat unterminiert schleichend unser menschliches Potenzial. Es bedarf dringend einer politischen Kraft, die dies auf ihre Agenda setzt und mit Nachdruck vertritt. Diese freiheitliche Kraft, die den Menschen, aber auch die nationalstaatliche Souveränität, wieder in den Mittelpunkt der Politik rückt, die auf individuelle Fähigkeiten, auf die Vielfalt menschlicher Gestaltungs- und Problemlösungskompetenzen vertraut, die mit einer Kultur des Mutes und des Optimismus der zunehmenden Bedrücktheit und Apathie entgegenwirkt, kann und wird nur die FDP sein.