Dienstag, 1. Dezember 2015

Hamburgs Olympia - Eine Entscheidung der Mutigen!




Nein, die Hamburger Entscheidung gegen Olympia ist keine Katastrophe, kein Armutszeugnis, kein Bekenntnis von Mutlosigkeit. Wir sind auch nicht auf dem Weg in den Provinzialismus oder in ein neues Biedermeier. Auch Stefan Aust irrt, wenn er schreibt: “Die Begeisterung darüber, dass man sich nichts mehr zutraut, ist beängstigend.“ Und ob Michael Stich zuzustimmen ist, wenn er meint, Hamburg habe eine großartige Chance verpasst, wissen wir nicht – und werden es auch nicht mehr erfahren.

Die Hamburger haben sich mehrheitlich gegen ein risikofinanziertes Megaevent in ihrer Stadt entschieden, das leicht zum sicherheitspolitischen Alptraum hätte werden können. Ob bei ihrer Entscheidung finanzpolitische Erwägungen bedeutsamer waren als städtebauliche, gesellschaftspolitische oder sicherheitspolitische wissen wir auch nicht. Vielleicht spielte mangelndes Vertrauen in entscheidungsbefugte Politiker und Sportfunktionäre die entscheidende Rolle. Vielleicht wollte man keine Fremdbestimmung durch das Kommerz- und Machtkartell. Vielleicht hat die olympische Idee durch den Gesichtsverlust des Weltverbandes einfach zu sehr gelitten. Vielleicht wollte man auch schlicht die Unruhe nicht in der Stadt, die Umweltschäden und sozialen Verwerfungen.

Wir leben in unruhigen Zeiten. Mit der Integration der Flüchtlinge kommen große Belastungen, erhebliche Herausforderungen und immense Kosten auf uns zu. Uns hierauf zu konzentrieren, scheint mehr als angebracht. Zudem werden die nächsten Jahre aufgrund der terroristischen Bedrohung nicht die Zeit von Megaevents sein. Wir dürfen der terroristischen Bedrohung nicht mit Angst begegnen, aber wir müssen auch nicht die Gefahr suchen und das Schicksal herausfordern. Wir sollten Massenveranstaltungen meiden. Nicht aus Furcht, sondern aus Vernunft. Vorsicht muss keinen Verlust an Lebensqualität bedeuten – ganz im Gegenteil.

Die Hamburger Entscheidung war keine Entscheidung der Mutlosen. Sie war von Klugheit und Weitsicht geprägt. Oft erfordert es viel mehr Mut, Verlockungen zu widerstehen und zu verzichten. Mit diesem Verzicht auf eine vielleicht großartige Chance haben die Hamburger viel Mut bewiesen.

Freitag, 6. November 2015

Aktive und frühzeitige Integration der Flüchtlinge!


Überzeugend erscheint der Alternativvorschlag der Freien Demokraten zur GroKo-Flüchtlingspolitik: Humanitärer Schutz für Kriegsflüchtlinge. Dadurch würde die Mehrheit der Schutzsuchenden pauschal einen rechtlich gesicherten Status mit Arbeitserlaubnis erhalten – statt kleinteilig jeden Flüchtling einzeln durch das Asylverfahren zu schleusen. Es erscheint möglich, einige der neu zu uns kommenden Menschen nach einer gewissen Zeit auf rechtlich sicherer Grundlage wieder in ihre Heimatländer zurückzusenden. Anderen wird bei guter gesellschaftlicher Integration eine dauernde Bleibeperspektive eröffnet. Damit gesellschaftliche Integration gelingt, muss sie sehr früh – möglichst schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen – anlaufen. Die Mehrheit der Flüchtlinge kommt aus bildungsfernen Schichten mit männerdominierter archaischer und streng muslimischer Prägung. Zudem kommen fast alle Flüchtlinge aus ausgesprochen staatsautoritären Gesellschaften. Erfahrungen der Kriegssituation und der Flucht haben zu einer ausgeprägten Enthemmung und Gewaltprägung geführt. Es muss daher vor allem darum gehen, diese Menschen an unser Rechts- und Normensystem, sowie an westliche Werte und Zivilisationsstandards heranzuführen. Vielfach herrschen Versorgungsmentalität, Passivität und unrealistische Erwartungshaltung in Bezug auf Konsummöglichkeiten und Lebensführung vor. Lethargie, Depression und Ängsten muss durch frühzeitige Anleitung zu Eigeninitiative und Selbsthilfe entgegengewirkt werden. Dies gelingt am besten, wenn Flüchtlinge so früh wie möglich die Massenunterkunft verlassen können und am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wir dürfen diese Menschen keineswegs in Wartezonen parken, sondern müssen sie frühzeitig durch aufwändige Maßnahmen integrieren und auch Eigenleistung und eigenes Bemühen um Integration von ihnen einfordern.

Mittwoch, 28. Oktober 2015

Aktiv gegen sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften!


Das Thema sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften gehört endlich auf die Agenda. Ganz offensichtlich werden Fälle von Vergewaltigung aus Angst, Scham und Unsicherheit der Frauen (zum geringen Teil auch Männer) gar nicht erst gemeldet. Werden sie gemeldet, wird vertuscht und die Öffentlichkeit falsch informiert. Typisch scheint ein Fall aus Herford, bei dem es in der Pressemitteilung der Polizei heißt: „In der Nacht zu Sonntag, gegen 01:30 Uhr, wurde eine Mitarbeiterin einer karitativen Einrichtung in einer Unterkunft für jugendliche Flüchtlinge in Herford von einem 15-jährigen Bewohner sexuell bedrängt. Die junge Frau setzte sich erfolgreich zur Wehr und verständigte die Polizei.“ Es gibt aber jetzt Hinweise, wonach die Sozialarbeiterin des Roten Kreuzes in einer ehemaligen Kaserne in Herford von einem 15jährigen Iraker vollendet vergewaltigt und noch in der Nacht in die Notaufnahme des Krankenhauses von Bad Oeynhausen gebracht wurde. Bewusste Falschmeldung und Bagatellisierung dieser Art scheint Strategie zu sein. Sie geschieht aus durchaus verständlichen und wohlmeinenden Motiven: Um die Stimmung gegen Flüchtlinge nicht weiter anzuheizen. Diese Strategie hilft aber den Opfern sexueller Gewalt nicht und bekämpft nicht die Ursachen.

Es gibt einen dramatischen sexuellen Notstand in Flüchtlingsunterkünften. Bei den Flüchtlingen handelt es sich zu sehr bedeutendem Anteil um junge Männer, die keine Gelegenheit haben, ihre sexuellen Bedürfnisse legal zu befriedigen. Zudem spielen patriarchalisch-männerdominierte Verhaltensprägungen dieser Männer eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus haben Kriegs- und Fluchterfahrungen zu einer Enthemmung und Verrohung des Verhaltens geführt. All dies senkt die Hemmschwelle zu sexueller Gewalt.
Wir müssen die überwiegend - aber nicht ausschließlich – weiblichen Opfer sexueller Gewalt besser schützen. Eine separate Unterbringung von allein reisenden Frauen und wirkungsvollerer Schutz müssen möglich gemacht werden. Darüber hinaus müssen wir dringend über die Schaffung von Möglichkeiten legaler Sexualität in den Lagern nachdenken. Den Männern muss die Möglichkeit geboten werden, ihre sexuellen Bedürfnisse im Rahmen von Prostitutionsangeboten in den Erstaufnahmeeinrichtungen und in unmittelbarer Nähe von Flüchtlingsunterkünften legal zu befriedigen. Über die Finanzierung sexueller Dienstleistungen und die Logistik ist dringend nachzudenken. Zudem brauchen wir mehr Schutz für gefährdete Personen und psychologische Betreuung für die Opfer sexueller Gewalt. Wir dürfen das Problem nicht länger totschweigen, verniedlichen und damit dulden!

Samstag, 24. Oktober 2015

Kein Mitleid mit dem Agitator Pirincci!




Vor zwei Jahren sagte eine amerikanische Freundin zu mir, dass sie Deutschland vor allem deshalb bewundere, weil es im Inneren so friedvoll vereint sei. Sie bezog sich damit auf die scharfe und feindselige Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in liberaldemokratische Reformer und in das konservative Amerika, wie es am deutlichsten durch die „Tea-Party“ zum Ausdruck gebracht wird. Ein vergleichbar unüberbrückbarer Graben gebe es in Deutschland nicht, sagte sie.

Ich glaube nicht, dass sie ihre Meinung heute noch vertreten würde, angesichts der sich zunehmend feindselig gegenüberstehenden Lager in der Flüchtlingsfrage. Deutschland ist tief gespalten. Wir haben längst amerikanische Verhältnisse. Was sich hier gegenübersteht, sind längst nicht nur unterschiedliche Auffassungen in einer bedeutenden Sachfrage. Es sind unvereinbare Lebensauffassungen, andere Geisteshaltungen und Kulturen.

Wie unvereinbar sich die Auffassungen der Repräsentanten offener Willkommenskultur und jener der „besorgten Bürger“ gegenüberstehen, zeigt sich etwa am völlig anderen Umgang mit dem Toleranzbegriff. Die einen fordern Toleranz für die Hass- und Fäkalsprüche eines Akif Pirincci und beschimpfen die Distanzierung der Verlage und Buchhändler als moderne Bücherverbrennung, für uns andere liegt die Verletzung der Toleranz gerade in den feindseligen und menschenverachtenden Provokationen begründet. Dieser feindseligen Intoleranz gegenüber Menschen und ihrem Schicksal darf aus unserer Sicht kein Raum gegeben werden und muss ihrerseits konsequente Nichttoleranz und scharfe Verurteilung nach sich ziehen.

Natürlich sind die Entscheidungen der Bertelsmann-Tochter Random House und Amazons richtig und notwendig, die Bücher – und zwar alle Bücher – Pirinccis nicht mehr zu vertreiben. Was wir allenfalls zu Recht beklagen können, ist, dass erst jetzt reagiert wird, nachdem jahrelang sehr gut an den Provokationsschreibereien verdient wurde. Eine rechtzeitige Distanzierung von einem Autor, dessen Meinungen längst bekannt waren, wäre wünschenswert gewesen. Es gibt durchaus nicht selten ZUVIEL Toleranz in unserem Land – gegenüber Hass und Gewalt, gegenüber den Intoleranten.

Wir dürfen nicht zulassen, dass der „kleine Akif“ zum bemitleideten Märtyrer gemacht wird. Er ist auch, aber längst nicht nur, der Autor harmloser Katzenkrimis. Es geht niemandem darum, die Existenz dieses Autors zu vernichten, wie Pirincci jetzt wehleidig beklagt. Was wir erleben, ist keine Hetzkampagne gegen einen unbescholtenen Bürger, der es wagt, seine Meinung zu sagen. Die klare Verurteilung dieses politischen Agitators ist richtig und notwendig. Sie hat nichts mit intolerantem Totalitarismus zu tun. Sie ist keine Bücherverbrennung, die auch nur das geringste mit den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten zu tun hätte. Sie richtet sich gegen die Pamphlete der Täter und ihrer Anstifter. Es darf für intolerante Hetzerei und menschenverachtende Agitation keine Toleranz und Nachsicht geben. Und für den "kleinen Akif" keinerlei Mitleid.

Dienstag, 20. Oktober 2015

Fragen an Hannah Arendt

Akif Pirincci links neben Pegida-Gründer Lutz Bachmann 


Von der „Banalität des Bösen“ sprach Hannah Arendt in Bezug auf Adolf Eichmann. Was würde sie wohl zu Akif Pirincci sagen, wenn sie ihn noch erleben müsste? Die Lichtgestalt der deutschen Kulturlandschaft hat es mit unsäglichen Parolen fertiggebracht, selbst auf der gestrigen Pegida-Demonstration in Dresden ausgepfiffen zu werden und die „Rede“ abbrechen zu müssen. Das Internetportal Pirinccis „Der kleine Akif“ gehört wohl zum Bizarrsten, was man in diesem Medium finden kann. Bei manchen Beiträgen verschlägt es einem schlicht die Sprache, etwa bei „Das Mösentuch“ oder „Tanz den Joseph Goebbels“ , indem es heißt: „[...] Je mehr die rot grün versifften Polit-Steuergeldschmarotzer angesichts der Moslem-und-Afro-Invasion Morgenluft für die Verwüstung der Heimat und des Austauschs des eigenen Volkes durch Analphabeten aus Scheißhaufenistan wittern, desto stärker fühlen sie sich bei Widerstand zu Methoden ihrer Urväter genötigt, welche zu jener schönen Zeit noch die klare Luft über den KZ-Türmen inhalieren durften.[...]“
Kann man wirklich so denken, fragt man sich. Ist soviel Hass und Menschenverachtung überhaupt vorstellbar? Ist soviel Abgründiges und Unterirdisches überhaupt noch Meinung, oder destillierte Provokation ohne jeden intellektuellen Anspruch? Sind die Ergüsse Ausdruck einer Psychopathologie und Folge einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Identitätsbildung?

Vor allem aber fragt man sich, wie man selbst mit dieser Unkultur umgehen soll. Sich damit überhaupt auseinandersetzen und Pirincci damit ernstnehmen? Sich gar provozieren lassen – und ihm damit genau das geben, was er erreichen will? Oder ihn komplett ignorieren und totschweigen, weil es eigentlich nur das sein kann, was seine Ergüsse verdienen? Ist es gerechtfertigt, ihn zu pathologisieren und sogar Mitleid zu empfinden? Ist so ein Mensch eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Gesellschaft und unser politisches Gemeinwesen? Wertet man ihn nicht völlig unverdient auf, wenn man ihn zu einem Gefährder hochstilisiert? Oder muss man Menschen wie ihn doch ernstnehmen? 

Wenn wir nur Hannah Arendt befragen könnten...

Freitag, 16. Oktober 2015

Selbstbefreiung vom Sex-Zwang


„Sexout“ heißt das neue Buch des auflagenstarken Lebenskunst-Philosophen Wilhelm Schmid. Ein chic klingender neuer Begriff für ein uraltes Phänomen: Mit der sexuellen Leidenschaft wird es in aller Regel in einer Paarbeziehung ab einem gewissen Punkt schwierig. Das Interesse schwindet, die Lust versiegt, Sexualität verkommt zur quälend abgearbeiteten Pflichtübung, auf die wir irgendwann mehr oder weniger gerne verzichten. Und da wir uns in allen gesellschaftlichen Bereichen sehr gerne unter Druck setzen und fremdbestimmen lassen, wird das Natürlichste auf der Welt – das sinkende sexuelle Interesse in der Paarbeziehung – eben zum Megaproblem erklärt, dem man mit allerlei, in der Regel sehr untauglichen Mitteln und Strategien, die Schmid in seinem Buch ausführlich beschreibt, zu Leibe rücken muss. Muss man wirklich? Am Ende seines Buches bespricht Schmid die Askese, rät zu Bescheidenheit der Ansprüche und zu mehr Gelassenheit. Den Sexout nicht zu problematisieren, ist eine weise Einsicht. Es geht darum, den Druck abzubauen, unter den man sich selber setzt. Routinestrategien, die Sex nach Plan verordnen, töten die letzte noch vorhandene Lust ab. Verklemmte Versuche mit Sexspielzeug ebenso. Was hilft, ist, sich selbst zu befreien: Nicht mehr müssen müssen, nicht mehr wollen müssen. Wir brauchen dieses Problem nicht. Wir brauchen selbst den Begriff für das Problem nicht. Unsere Sexualität ist voller faszinierender Möglichkeiten, die wir nutzen können. Wir müssen uns nur treiben lassen und dem freien Spiel der Möglichkeiten hingeben, ohne zwanghaft verkopften Erwartungen zu huldigen. Nichts muss – alles kann. Die sexuelle Selbstbefreiung setzt so manches frei: Die Phantasie, das Verlangen – und die Lust.




Im Bild „Summer In The City“ (Edward Hopper, 1949)

Sozialmilieus, Wählervielfalt und die FDP?



Welchen Wähler will die neue FDP eigentlich wie ansprechen? Wenn man Verlautbarungen der Parteispitze oder Einlassungen in der Programmdebatte verfolgt, gewinnt man den Eindruck, es gäbe so etwas wie den typischen Wähler, den man in standardisierter Form ansprechen könne. Dieser typisierte Wähler ist allerdings eine Fiktion – sowohl in psychologischer, als auch in soziologischer Hinsicht.

Psychologie wie Soziologie lassen keinen Zweifel daran, dass Menschen - und damit Wähler – ausgesprochen unterschiedlich sind. Diese Unterschiedlichkeit wird aber meiner Meinung nach in unseren parteistrategischen Überlegungen viel zu wenig reflektiert. Wir sollten uns verabschieden vom „Wähler“ und uns stattdessen „DEN Wählern“ in ihrer ganzen Vielfalt zuwenden.
Die soziologische Vielfalt wird in Sozialstrukturanalysen untersucht. Früher wurden Menschen einer Gesellschaft zunächst Klassen und später Schichten zugeordnet. Heute unterscheidet man „soziale Lagen“, Grundorientierungen von Menschen und soziale Milieus.
So können wir heute innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft elf Milieus unterscheiden (nach SINUS-Institut 2014, von mir verändert):

1.Ausgegrenzte: Personen ohne oder mit rudimentärer Einbindung in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, häufig ohne feste Wohnung und gesundheitliche Versorgung.

2.Prekäre: Um Orientierung und Teilhabe bemühte Personen mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments, bemüht, Anschluss zu halten, mit reaktiv-delegativer Grundhaltung und sozialen Rückzugstendenzen.

3.Traditionelle: Die Sicherheit und Ordnung liebende untere Mittelschicht – in der alten kleinbürgerlichen Welt oder der traditionellen Arbeiterkultur verhaftet.

4.Hedonisten: Die spaß- und erlebnisorientierte moderne untere Mittelschicht – Leben im Hier und Jetzt, Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft.

5.Bürgerliche Mitte: Der leistungs- und angepasste bürgerliche Mainstream – generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung, Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen.

6.Adaptiv-Pragmatische: Die moderne junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül – zielstrebig und kompromissbereit, konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert, starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit.

7.Sozialökologische: Idealistisches konsumkritisches/-bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom „richtigen Leben“ – ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen, Globalisierungsskeptiker, Bannerträger von Political Correctness und Diversity.

8.Expeditive: Die ambitionierte, kreative Avantgarde – unkonventionell und individualistisch, mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt, grenz- und lösungsorientiert.

9.Liberal-Intellektuelle: Die aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, Wunsch nach selbstbestimmtem Leben, vielfältige intellektuelle Interessen.

10.Performer: Die multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite mit globalökologischem Denken, Selbstbild als Konsum- und Stilavantgarde, hohe IT- und Medienkompetenz.

11.Konservativ-Etablierte: Das klassische Establishment – Verantwortungs- und Erfolgsethik, Exklusivitäts- und Führungsansprüche versus Tendenz zu Rückzug und Abgrenzung,
Statusorientierung und Standesbewusstsein.

Diesen elf Sozialmilieus können verschiedene Grundorientierungen zugeordnet werden: Bekommen, Haben, Genießen, Werden, Sein, Festhalten, Bewahren, Verändern, Machen, Erleben, Denken, Interagieren, Grenzen überwinden, Beschleunigung, Verlangsamung, Exploration, Selbstfindung, Ruhe.

In Bezug auf diese Grundorientierungen stellt sich die Frage: Welchen fühlt sich die FDP verpflichtet? Welche will sie in besonderer Weise bedienen? Gibt es welche, denen sie eher fernsteht?
In Bezug auf die elf Sozialmilieus muss man fragen: An potenzielle Wähler aus welchen dieser Sozialmilieus wendet sich die FDP? An alle – oder sind bestimmte Milieus vernachlässigbar, weil aus ihnen ohnehin kaum Wähler zu erwarten sind, etwa die Unterschichtmilieus der „Ausgegrenzten“ und „Prekären“, oder der „Traditionellen“ und der „Bürgerlichen Mitte“, die eher den Volksparteien oder der „Sozialökologischen“, die eher den Grünen nahestehen?
Falls alle gemeint sind, werden auch alle in gleicher Intensität angesprochen oder gibt es Zielgruppen, die mit bestimmten Milieus weitgehend deckungsgleich sind?
Und schließlich, wenn man Klarheit hat, welche Milieus man in welcher Intensität ansprechen will, stellt sich die Frage: Wie will man diese Gruppen ansprechen? Es ist wohl offensichtlich, dass man nicht alle Milieus in gleicher Weise ansprechen kann – dafür sind sie zu unterschiedlich. Im Prinzip wäre zu fordern, für jedes Milieu, das man ansprechen möchte (und das wären im Idealfall alle) eine eigene Ansprachestrategie zu entwickeln – nur so wäre eine zielgruppenadäquate und effektiv-effiziente Ansprache gewährleistet.

Mein Eindruck ist, dass Teile dieser Entscheidungsfragen durchaus vorbeantwortet sind, allerdings nicht hinlänglich reflektiert und sowohl innerhalb der Parteigremien und gegenüber der parteinahen Öffentlichkeit nicht (ausreichend) kommuniziert.
So sehe ich gewisse Präferenzen hinsichtlich der Grundorientierungen:
Materiell konsumorientiert statt postmateriell lebensorientiert. Beschleunigung statt Entschleunigung. Verändern statt Bewahren. Mehr bekommen statt Genießen. Interaktion statt Selbstfindung.
Man gewinnt den Eindruck, dass insbesondere Vertreter postmaterieller und hedonistischer, aber auch konservativer Werte bislang nicht effektiv angesprochen werden. Dies mag an einer (Über)betonung der Werte "Leistung" und "Fortschritt" liegen.
Meiner Meinung nach sprach - und spricht – die FDP deutlich bevorzugt Wähler aus den fünf gehobenen Milieus an, insbesondere die „Liberalen Intellektuellen“, die „Performer“ und die „Expeditiven“, deutlich weniger die „Konservativ Etablierten“ (CDU/CSU-Klientel) und die „Sozialökologischen“ (Grünen-Klientel). Die Milieus der mittleren und der Unteren Mittelschicht („Adaptiv-Pragmatische“, „Bürgerliche Mitte“, „Traditionelle“ und „Hedonisten“ ) werden sehr viel weniger angesprochen und zudem zielgruppeninadäquat. Bisher gelingt es nur mangelhaft, diese Gruppen zu erreichen. Noch viel weniger trifft das auf die Milieus der Unterschicht, die „Prekären“ und die „Ausgegrenzten“ zu. Man gewinnt den Eindruck, dass dieses Segment bisher nicht, bzw. völlig inadäquat bearbeitet wird.

Fazit:
Wir sollten Klarheit darüber gewinnen, wer unser potenzieller Wähler ist und wer er nicht ist. Vielleicht macht es Sinn, sich auf bestimmte Milieus zu konzentrieren und andere zu vernachlässigen. Andererseits stünde es unserem liberaldemokratischen Anspruch gut zu Gesicht, eine wirksame Kommunikation mit allen Gruppen der Gesellschaft zu entwickeln. Wichtig erscheint mir in jedem Fall, dass diese Entscheidungen gut reflektiert getroffen und transparent kommuniziert werden. Darüber hinaus sind dann zielgruppenadäquate Ansprachestrategien für diese Milieus zu entwickeln.
DEN potenziellen FDP-Wähler gibt es nicht. Wir sollten ihn zu Grabe tragen!

Freitag, 9. Oktober 2015

Die Rückeroberung des Begriffs der Freiheit




Man begegnet dieser offensichtlich weit verbreiteten Volksmeinung immer wieder: Die „Alternative für Deutschland“ vertrete so etwas wie den eigentlichen, wahren Liberalismus, wertverbunden und prinzipienorientiert. Die FDP sei hingegen eine identitätslose Softcoreversion des Liberalismus, anfällig gegenüber schädlichen Tendenzen des politischen Mainstream und monetären Verlockungen und deshalb letztlich verzichtbar. Wie kann es eigentlich sein, dass eine Partei wie die „AfD“, die offensichtlich so gar nichts mit freiheitlichem Denken zu tun hat, die auf engste mit nationalchauvinistischen und ressentimentgesteuerten Wut- und Angstbürgerbewegungen wie Pegida verknüpft ist, von so vielen Menschen immer noch für den Gralshüter des Liberalismus gehalten wird? Wie kann es sein, dass sich im liberalen Umfeld, bei der Hayek-Gesellschaft etwa, in freiheitlichen Blogs, Thinktanks und Netzwerken Denkende und Schreibende über den Umgang mit fragwürdigen Kräften zerstreiten und an der Frage verzweifeln, wo genau die Grenzen der liberalen Familie zu ziehen sind? Ohne diese Fragen auf Anhieb beantworten zu können, ist eines offensichtlich klar: Dass wir es bei soviel Orientierungslosigkeit mit einer Diffusion des Liberalismusbegriffs und mit einer Identitätsstörung des politischen Liberalismus zu tun haben.

Früher war die politische Orientierung doch einfach und klar: Es gab das freiheitliche bürgerliche Lager, modernistisch geprägt, marktwirtschaftlich orientiert und demokratisch verwurzelt – und es gab die politische Rechte, faschistoid ausgerichtet und staatsfixiert denkend. Zwischen beiden lag kaum etwas, es gab wenig, das sie verband und unendlich viel, das sie trennte. Heute sind die Konturen aufgeweicht, diffus verschwommen. Es gibt nicht wenige nationalchauvinistische Reaktionäre, die sich zum freien Unternehmertum bekennen und marktwirtschaftlich geben. Andere selbsterklärte „Liberale“ bekämpfen auf aggressive Art die offene Gesellschaft und stellen die Ideen der Aufklärung und Werte wie Toleranz und Vielfalt offen in Frage. Wo es früher eine deutliche Abgrenzung von Kulturen und Sprache gab, finden wir heute zunehmend eine Vermischung: Nationalchauvinistisches, völkisch geprägtes Gedankengut und menschenverachtend - zynische Sprache dringen immer weiter in die bürgerliche Gesellschaft vor und verändern das kollektive Bewusstsein. Hemmungen schwinden, die offene Gesellschaft gerät in Rückzugsgefechte mit der immer offensiver vorgetragenen Gegenoffensive. Diese Bedrohung von Rechts ist anders als früher deshalb so gefährlich, weil sie den freiheitlichen Habitus imitiert und sich unserer Kulturformen und Begriffe bedient. Die neue Gefahr von Rechts kommt heute mitten aus dem bürgerlich-freiheitlichen Lager. Es scheint so, als habe ein Wirkstoff seine chemische Struktur verändert und sei heute, anders als früher, in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und auf das Gehirn unmittelbar einzuwirken.

Wir erleben gegenwärtig einen inflationären Gebrauch der freiheitlichen Begriffe. Von rechts bis grün bezeichnet man sich als "liberal". Liberalsein ist offensichtlich "in", entspricht dem Zeitgeschmack. Dass große Unklarheit darüber besteht, was der Modebegriff eigentlich genau bedeuten soll, stört offenbar wenig. Eine besondere Rolle spielt die Usurpation des zentralsten Begriffes des Liberalismus überhaupt: Dem der Freiheit. Der Freiheitsbegriff ist heute völlig diffus und kann mit völlig austauschbaren Inhalten gefüllt werden. In Österreich kommt die „Freiheitliche“ Partei mit rassistischen Parolen und antipluralistischen, intoleranten Konzepten daher. Internetportale, die sich in ihren Kolumnen gegen die offene Gesellschaft und aufklärerische Ideen von Toleranz und Vielfalt richten, bedienen sich der freiheitlichen Metaphorik. Für den naiven Leser ist heute überhaupt nicht mehr klar, für was zentrale Begriffe des politischen Liberalismus stehen und – schlimmer noch – für was sie nicht stehen.

Mindestens ebenso negativ wirkt sich aus, dass es den neurechten Demagogen gelungen ist, zentrale Werte für sich zu besetzen. Der „AfD“-Politiker Alexander Gauland etwa schrieb: “Wir werden es künftig mit zwei kulturellen Milieus zu tun haben, einem liberal individualistischen, das sich für Zuwanderung, die Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften und jede Art von Selbstverwirklichung stark macht, und einem wertkonservativen, das auf einer verbindlichen Identität aus moralischen Prinzipien und abendländischen Traditionen besteht und wirtschaftlichen Notwendigkeiten wie wirtschaftlichen Erfolgen eher skeptisch gegenübersteht, also nicht mehr das bürgerliche Lager gegen die Sozialdemokratie, sondern Konservative versus Liberale in allen Parteien.“ Anders als andere schmückt sich Gauland nicht mit dem Liberalismus-Begriff, sondern grenzt sich davon ab, indem einen Hiatus zwischen „wertgebundenen Konservativen“ und „wertfreien Liberalen“ generiert. In jedem Fall besteht ein Hegemonieanspruch der Neurechten auf Wert und Moral: Das wertgebundene, moralische Milieu, so die Erzählung, stehe für Heimat, Tradition, Religion, für das Gute eben. Die offene Gesellschaft und ihre Protagonisten hingegen stehen für Bindungsverlust, Entfremdung, Degeneration.

Unschuldig sind wir Liberale nicht daran, dass diese Umdeutungen und Usurpationen gelingen konnten. Bedürfnisse und Ängste von Menschen wurden zu wenig reflektiert. Zu wenig beachtet, dass Menschen Bindung brauchen und Veränderung verarbeitet werden muss, dass zuviel Veränderung in zu kurzer Zeit Menschen überfordern kann. Ebenso wurde viel zu wenig die Werthaftigkeit und Wertgebundenheit von Liberalismus kommuniziert. Liberalismus bedeutet eben nicht Werterelativismus, auch nicht blinden Progressivismus. Freiheit bedeutet eben nicht Wertfreiheit, nicht Ungebundenheit und Bindungslosigkeit, nicht Isolationismus. Freiheit, wie Liberale diesen Begriff verstehen, bedeutet Freiheit in Verantwortung und Offenheit auf der Grundlage ganz entschiedener Wertebindung.

Wie können wir der Begriffsverunklärung und dem Hegemonieanspruch der Neurechten auf Werte und Moral entgegenwirken? Es geht um nicht weniger als die Ehrenrettung des Liberalismus in dieser Zeit. Um die Rückeroberung unseres Terrains, die Rückeroberung unserer Begriffe. Liberalismus ist mehr, viel mehr, als nur ein Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Prinzipien. Wer antiwestliche Positionen vertritt und Sympathien für Putins Staatsmodell hegt, kann kein Liberaler sein. Wer christlichem Fundamentalismus huldigt oder ein archaisches, frauenfeindliches Familienmodell vertritt, kann kein Liberaler sein. Wer fremdenfeindlichen Ressentiments und Vorstellungen einer national geprägten Volksgemeinschaft anhängt, kann kein Liberaler sein. Auch dann nicht, wenn er, wie FPÖ-Politiker dies gerne tun, auf die enge Verbindung von nationalem und freiheitlichem Lager im deutschen Vormärz, also der Zeit zwischen 1830 und 45, verweist. In der Frühphase der Entwicklung unseres Parteiensystems gab es auch enge Verbindungen zwischen liberalen und radikaldemokratischen Kräften, aus denen später Stalinisten und SED-Sozialisten hervorgegangen sind. Gemeinsame Herkunft kann nicht bedeuten, dass später nach völliger Auseinanderentwicklung nicht eine radikale Abgrenzung erforderlich ist.

Die klare Polarisierung, die unser Land in der Flüchtlingsfrage erlebt, bietet die Chance, die Grenzen wieder neu zu ziehen und in der Zukunft besser zu verteidigen. In dieser Frage ist unsere Gesellschaft tief gespalten: Die Anderen stehen für nationalchauvinistische Ressentiments, für Abgrenzung, für Abschiebung, für Fremdenangst und Zukunftsangst, für Unmenschlichkeit gegenüber Menschen in Not. Das freiheitliche Bürgertum – und zwar gleichermaßen die, die sich eher im klassischen Sinn als Liberale und die, die sich eher als freiheitliche Wertkonservative bezeichnen – stehen für Mitmenschlichkeit, für Integration, für Offenheit und Optimismus trotz Wagnis. Das freiheitliche Bürgertum steht für „German Mut“, ist bereit, für seine Überzeugungen Opfer zu bringen und viel zu riskieren. Liberalismus ist zutiefst von Menschenfreundlichkeit und Menschlichkeit geprägt, von Optimismus und einem positiven Menschenbild. Das unterscheidet uns fundamental von den selbsternannten Pseudoliberalen und Moralaposteln, die sich im Umfeld der „AfD“ als besorgte Bürger tummeln.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Facebook-Schnipsel


Horst Seehofer und die "Herrschaft des Unrechts"
"Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts." So spricht der Parteivorsitzende einer Partei, die auch weiterhin wenig Probleme damit haben wird, als Koalitionspartner an der Regierung beteiligt zu sein, die die Herrschaft des Unrechts implementiert. Seehofer verurteilt, was er (als Chef einer Regierungspartei) selber repräsentiert. Die Klinische Psychologie kennt hierfür den Begriff der Dissoziation – eine Trennung von im Normalfall verbundenen Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten. Die Folge ist eine Störung der integrativen Funktionen des Bewusstseins und der Identität.



Antidiskriminierung und Hausrecht
Bei gewerblichen Betrieben darf es aus meiner Sicht anders als im Privathaushalt keine formelle Diskriminierung geben. Formelle Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund bestimmter Merkmale oder auch aufgrund eines nicht näher bestimmten Gesamteindrucks den Zutritt zu verwehren. Öffentliches Interesse an Nichtdiskriminierung ist höher zu gewichten als das Hausrecht des Gewerbetreibenden. Zulässig hingegen ist informelle Diskriminierung etwa über Preise, Kleiderordnung oder sonstige Verhaltenskultur. Entscheidend ist, dass hier der Gast selber entscheidet, ob er/sie unter den gegebenen Bedingungen teilnehmen möchte.



Christian Lindner zum Antisemitismus von Flüchtlingen
Starker Auftritt von Lindner. Problematisch aber die Aussage zu Josef Schuster: Pauschalisierungen sind immer fragwürdig. Richtig ist aber, dass die Flüchtlinge zu einem sehr erheblichen Teil aus Gesellschaften kommen, die massiv anti-israelisch bzw. anti-jüdisch geprägt sind. Es geht ja hier um Gefahrenabwehr, um Prophylaxe. Da ist es schon legitim, Gruppen besonders im Auge zu haben, bei der die Prognose unzweifelhaft ungünstig ist. Mediziner gehen regelmäßig so vor: Besondere Wachsamkeit bei spezifischen genetischen Dispositionen oder anderen Risikofaktoren. Das bedeutet keine Aussage über den individuellen Einzelfall, auch keine Verharmlosung oder Relativierung rechter Gewalttäter.


Zum Rauswurf Matthias Matusseks bei der "Welt"
Konsensfaschismus: Unsinn! Verlage und Medien müssen auf unsägliche Äußerungen reagieren dürfen. Wollen sie sich nicht dem Vorwurf wertevergessenen Relativismus schuldig machen, müssen sie es sogar. Der Rauswurf war ein Akt von Zivilcourage und Betriebshygiene.


Umgang mit Terrortätern
„Warum geben die Medien so einer Kreatur "last minutes of fame"? Sie ist tot. Gut so. Abhaken. Nächste(n) finden.“ kommentiert Wolfgang J. Stützer.
So einfach sollten wir es uns nicht machen, finde ich. Täter sind immer auch Opfer, Menschen, die ihre Menschlichkeit auf dramatischste Weise verloren haben, fürchterlich gescheiterte Entwicklungen und Biografien, unendlich bittere Geschichten verlorener Träume und Hoffnungen. Mich stimmen solche Lebensgeschichten unendlich traurig. Wir sollten diese Täter, die auch Opfer sind, nicht dehumanisieren – damit stellten wir uns auf eine Stufe mit den Entmenschlichern selbst. Wir sollten uns nicht blindem Hass hingeben, sondern nach den Ursachen fragen, die eine Entmenschlichung von Menschen möglich machen. Und der verlorenen Seelen im Stillen gedenken.



Flüchtlingsintegration
Damit gesellschaftliche Integration gelingt, muss sie sehr früh – möglichst schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen – anlaufen. Die Mehrheit der Flüchtlinge kommt aus bildungsfernen Schichten mit männerdominierter archaischer und streng muslimischer Prägung. Zudem kommen fast alle Flüchtlinge aus ausgesprochen staatsautoritären Gesellschaften. Erfahrungen der Kriegssituation und der Flucht haben zu einer ausgeprägten Enthemmung und Gewaltprägung geführt. Es muss daher vor allem darum gehen, diese Menschen an unser Rechts- und Normensystem, sowie an westliche Werte und Zivilisationsstandards heranzuführen. Vielfach herrschen Versorgungsmentalität, Passivität und unrealistische Erwartungshaltung in Bezug auf Konsummöglichkeiten und Lebensführung vor. Lethargie, Depression und Ängsten muss durch frühzeitige Anleitung zu Eigeninitiative und Selbsthilfe entgegengewirkt werden. Dies gelingt am besten, wenn Flüchtlinge so früh wie möglich die Massenunterkunft verlassen können und am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Wir dürfen diese Menschen keineswegs in Wartezonen parken, sondern müssen sie frühzeitig durch aufwändige Maßnahmen integrieren und auch Eigenleistung und eigenes Bemühen um Integration von ihnen einfordern.


Reaktion auf Terror
Die Feinde der offenen Gesellschaft wollen nicht nur, dass wir im Alltag Angst haben. Sie bezwecken, dass unsere Gesellschaften sich radikalisieren, ihre Offenheit durch Abschottung ersetzen und so ihre Stabilität verlieren. Deshalb sind wir aufgerufen, aus der Trauer die Kraft zu entwickeln, die innere Liberalität entschiedener als bisher zu verteidigen.


Meinungsfreiheit
Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht, dass wir alles ertragen und aushalten müssen. Meinungsfreiheit schliesst auch das Recht ein, Meinung abzulehnen, zu widersprechen und aufzubegehren. Bürger haben das Recht, Geschäftspartner aufgrund ihrer Positionen abzulehnen. Das gilt auch für Verlage und Buchhändler gegenüber Autoren. Meinungsfreiheit ist keine Duldungsverpflichtung.
Es geht hier doch gar nicht um Grenzen der Meinungsfreiheit, sondern um Zivilcourage. Meinungsfreiheit ist keine Duldungsverpflichtung. Menschen müssen nicht jede Zumutung ertragen und stehen dagegen auf. Buchhändler und Verlage zeigen Flagge und reagieren - wenn auch zu spät. Passanten zeigen Zivilcourage in der Fußgängerzone, indem sie klar machen: Wir wollen das hier nicht. Das ist großartig!


Sind wir zu liberal?
Wir sind zu tolerant gegenüber Intoleranz. Wir verwechseln zu oft wertgebundene Freiheitlichkeit mit werterelativistischem Liberallala. Freiheit, die sich nicht gegen ihre Feinde abzugrenzen versteht, weiß sich auch nicht gegen sie zu verteidigen.


Hassbürger
Die Ressentiments der Hassbürger sind ganz stark von gelernter Hilflosigkeit geprägt, vom Gefühl der Selbstunwirksamkeit, der Unfähigkeit, das eigene Leben gestalten, beeinflussen, verändern zu können. Unsere Welt ist eine Welt der Außengeleiteten, der Getriebenen, der Fremdbestimmten geworden. Was wir dagegensetzen müssen, ist eine neue Erzählung der Freiheit, eine Lebenskultur der Freiheit, wie sie etwa Ralph Waldo Emerson in "The American Scholar" zum Ausdruck gebracht hat: Sich auf sich selbst und seine Fähigkeiten besinnen, sein Leben selbst in die Hand nehmen, Verantwortung übernehmen, sich für frei und unabhängig erklären. Was wir dazu brauchen, ist Optimismus, Mut - und eine Vision vom besseren, wirkungsvolleren Selbst.


Horst Seehofers "infantiler" Politikstil in der Flüchtlingsfrage
Marion Horn hat Recht: Horst Seehofer handelt populistisch, unreflektiert, kurzsichtig, staatspolitisch unverantwortlich. Das hat etwas Unreifes - doch es betrifft nicht nur Seehofer und die vorpreschenden CSU-Granden allein. Der "Besorgte-Bürger"-Kultur insgesamt haften gewisse unreife, infantile Verhaltensmuster und Attitüden an: Eine mangelhafte Bereitschaft, die Dinge zu Ende zu denken, eine mangelnde Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu wollen und über den eigenen Tellerrand hinauszudenken, ein narzisstischer Egozentrismus, eine Unwilligkeit, zu teilen, vom Eigenen abgeben zu können. All das kennzeichnet präadulte Entwicklungsphasen.


Ehe-Resilienz und Gender
Ehen scheitern heute vielleicht nicht öfter als früher, aber sie werden viel öfter und schneller geschieden. Diese mangelhafte Resilienz von Ehe (und Beziehung insgesamt) ist dem Zeitgeist geschuldet: Oberflächlichkeit und Larmoyanz, überzogener Individualismus, egoistisch-narzisstische Tendenzen, überzogene Konsumhaltung (Wegwerfmentalität), fehlende Bereitschaft, mühevolle Beziehungsarbeit leisten zu wollen oder zu können uvm. Was "Gender" betrifft: Solange die Bewegung mit emanzipativem Anspruch daherkommt, der für die Interessen von Minderheiten eintritt, verdient sie volle Unterstützung. Aber es gibt wohl auch dogmatische und destruktive Tendenzen der Intoleranz gegenüber dem Mainstream, die sich gegen konservative Lebensmodelle, unsere Sprache und unser Denken richten.


Fernsehauftritt der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise
Die Kanzlerin verkörperte in diesem Gespräch alles, was wir in der FDP mit "GERMAN MUT" ausdrücken wollen: Optimismus, Grundsatztreue, Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, Entschlossenheit, sich gewaltigen Herausforderungen zu stellen, voranzugehen und in Europa Führung zu zeigen. Und eben viel Mut, dafür mit der eigenen Person einzustehen. Dieser offene und ehrliche, sehr lutherische Auftritt war anrührende, große Kommunikation.


Liberale Handschrift in der Flüchtlingspolitik
Ein sächsischer FDP-Ortsverein lädt zu einer Abendveranstaltung mit der "AfD"-Vorsitzenden Frauke Petry ein und erntet breite Zustimmung vor Ort. Nach Einschätzung von Tom Thieme, Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz, stehe die FDP derzeit vor einem Dilemma: Die Partei müsse entweder einen asylfreundlichen oder einen asylkritischen Kurs einschlagen. Eine asylfreundliche FDP würde sich allerdings kaum von anderen Parteien abheben. Und eine asylkritische FDP könne der AfD nicht das Wasser reichen, wenn es um das Flüchtlingsthema gehe. Dieses Dilemma führe zu irrationalen Entscheidungen wie der, Frauke Petry einzuladen, so Thieme.

Ich sehe das Dilemma für die FDP nicht, das Tom Thieme beschreibt. Als humanistisch geprägte Rechtsstaatspartei stehen wir ohne Wenn und Aber zum Asylrecht. Möglichkeiten zur Profilschärfung gibt es dabei genug: Entbürokratisierung, integrationsfördernde, dezentrale Unterbringung, Förderung von bürgerschaftlichem Engagement, Anreize zu Eigenleistung und Eigeninitiative von Flüchtlingen schaffen etc. Es gibt breiten Raum für genuin liberale Impulse und Aktivitäten in der Flüchtlingspolitik. Gemütliche Abende mit Frauke Petry gehören aber ganz sicher nicht dazu.

Montag, 5. Oktober 2015

Drei Ansätze zu einer liberalen Naturpolitik




Drei Ansätze zu einer liberalen Naturpolitik


Neben zwei oder drei Kernthemen, die unseren Wahlkampf prägen werden, benötigen wir auch in anderen Politikbereichen eine genuin liberale Handschrift. Die Zeiten müssen vorbei sein, in denen wir uns auf wenige Themen beschränken und alle anderen weitgehend der politischen Konkurrenz überlassen. Ein solches Thema ist die Natur- und Umweltpolitik. In den siebziger Jahren gab es wichtige umweltpolitische Initiativen der FDP, seither aber ist das Thema Umweltpolitik und insbesondere die Naturpolitik randständig vernachlässigt worden. Deshalb meine These:

Die FDP muss die Naturpolitik als Thema zurückerobern und den Hegemonieanspruch der Bündnisgrünen in der Naturpolitik zurückweisen. Wir können Naturpolitik besser!

Dazu aber braucht es eine genuin liberale Handschrift und einen eigenen liberalen Ansatz in der Naturpolitik. Ich möchte hierzu folgend drei Ansatzmöglichkeiten zur Diskussion vorschlagen. Es handelt sich dabei nicht um konkrete politische Forderungen, sondern um allgemeine Ausrichtungen, die im Zusammenhang mit Grundsatzpositionen in anderen Politikbereichen gesehen werden müssen.

Ansatz 1. Naturpolitik mit den Menschen, nicht gegen die Menschen!

Die bisher praktizierte Naturschutzpolitik – insbesondere auch die der Naturschutzverbände – ist sehr häufig gegen die Menschen und ihre Interessen gerichtet. Menschen werden beim Naturschutz, insbesondere da, wo es um den Schutz bedrohter Arten geht, in der Regel nur als Störfaktor gesehen, der effektivem Naturschutz im Weg steht. Die Folge ist etwa, dass das Betreten ausgedehnter Flächen in Naturschutzgebieten häufig komplett untersagt wird. Ein solches Naturschutzkonzept ist kontraproduktiv, da es Menschen aussperrt und intensives Naturerleben, das erst die Bereitschaft zu Naturschutzbemühungen fördert, völlig ausschließt.

Das liberale Verständnis setzt auf den mündigen, aufgeklärten Menschen und auf seine Bereitschaft, im Einklang mit eigenen Interessen im Verkehr, in der Landwirtschaft und im Freizeitverhalten zum Naturschutz aus eigenem Antrieb beizutragen. Liberale Politik sperrt Menschen nicht aus, sondern bezieht sie mit ein, ermöglicht Begegnung mit der Natur, fördert aktiv Aufklärung und die Bereitschaft zur Mitarbeit. So entsteht das Gefühl, dass man selber am Naturschutz beteiligt wird und er nicht gegen einen und die eigenen legitimen Interessen repressiv durchgesetzt wird.

Ansatz 2. Toleranz und Vielfalt – auch in der Naturpolitik!

An der Herkulesstaude oder dem Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum, Syn.: Heracleum giganteum) scheiden sich bei uns im Siegtal die Geister. Eine regionale Initiative hat sich gegründet, die dem angeblich gefährlichen Neophyten (das sind Pflanzen fremdländischen Ursprungs - also Einwanderer) den Garaus machen sollen: Das "KulturBiotop Siegtal" fordert ein herkulesstaudenfreies Siegtal. Doch auch andere Einwanderer stehen auf der Abschussliste, so im Siegtal der Staudenknöterich (Fallopia japonica , auch Polygonum cuspidatum) und das indische Springkraut (Impatiens glandulifera). Alle drei attraktiven Arten kultivieren wir erfolgreich in den WINDECKER GARTENTRÄUMEN. Auf der Geltinger Birk in Schleswig Holstein wird die Kartoffelrose (Rosa rugosa, hier im Foto) bekämpft: Ein wunderschöner Anblick am Meer, doch auch sie ein vermeintlich „gefährlicher invasiver Neophyt“, weil sie eine andere, hier länger heimische Wildrosenart verdrängt.
Nicht wenige Menschen stellen das Existenzrecht von Neozoen und Neophyten, von eingebürgerten Tieren und Pflanzen, in Frage. Häufig wird dann ökologisch argumentiert: Die Neubürger störten das ökologische Gleichgewicht und verdrängten „einheimische“ Arten, was sie ohne Zweifel mitunter tun. Dahinter steht dann immer eine statische Vorstellung von Lebensgemeinschaften: Die Alteingesessenen haben eine Lebensberechtigung, die Neubürger gelten als Störfall, als Bedrohung. Diese Menschen glauben an eine ewiggültige Vorstellung von „deutschem“ Wald und „deutscher“ Flur. Arten, die zu Goethes Lebzeiten schon hier waren, gehören dazu. Arten, die später gekommen sind, nicht.
Die entgegengesetzte Sicht ist die, Lebensgemeinschaften dynamisch zu betrachten, d.h. wie die Evolution selbst ständig Veränderungen unterworfen. Neuankömmlinge gelten so als Bereicherung, selbst dann, wenn sie alteingesessene Arten verdrängen. Arten haben allein durch ihr Dasein eine Lebensberechtigung erworben.

Als Liberale sollten wir für ein dynamisches Naturverständnis eintreten und Toleranz praktizieren, so wie wir es im gesellschaftlichen Bereich längst ganz selbstverständlich tun. Für gesellschaftliche Vielfalt und Toleranz einzutreten und gleichzeitig ein starres, statisches Naturverständnis zu propagieren und zum Vernichtungsfeldzug von „invasiven Neozoen und Neophyten“ aufzurufen, passt einfach nicht zusammen! (Dies als kleiner Wink an befreundete FDP-Kommunalpolitiker, für die dieser Spagat kein Problem zu sein scheint...) Als Partei der Vielfalt, der Toleranz und der „Willkommenskultur“ müssen wir ein solches Verständnis auch der Natur gegenüber praktizieren.

Ansatz 3. Mehr Nichtintervention wagen!

Im Vergleich zu unseren politischen Konkurrenten neigen Liberale traditionell deutlich weniger zu Interventionen – etwa des Staates in den Wirtschaftskreislauf. Anarcholibertäre treiben diese Nichtintervention, das Laissez-Faire, bekanntlich auf die Spitze, doch selbst „Sozialliberale“ unterscheiden sich im Hinblick auf die Hemmung zum Eingriff noch deutlich von Sozialdemokraten. Wir greifen nicht ein, weil wir glauben, dass sich spontane Ordnungen besser, innovativer und effektiver regulieren. Wir sollten dieses Prinzip als Liberale auf unseren Umgang mit der Natur übertragen!

Selbst in der Kulturlandschaft ist sehr viel mehr Wildnis möglich. Mehr Flächen ausweisen, die sich selbst überlassen bleiben. Jagd nur noch dort, wo andere, naturnähere Methoden der Bestandsregulierung versagen. Mehr Mut bei der Ansiedlung von bestandsregulierenden Prädatoren wie Wolf und Bär. Vielfalts- und stabilitätsorientierte Aufforstung. Bei Schäden prüfen, ob eine natürliche Selbstregulation und Selbsttherapie der Naturlandschaft nicht möglich und vorzuziehen ist. Und vieles mehr.

Fazit: Drei Ansätze zu einer liberalen Handschrift in der Naturpolitik, die dem Menschen mehr zutraut, nämlich aktiv am Naturschutz mitwirken zu wollen und zu können. Die der Natur mehr zutraut, nämlich ohne menschliche Eingriffe Stabilität organisieren zu können. Die auf Vielfalt und Toleranz setzt, originär freiheitliche Tugenden - in der menschlichen Gesellschaft längst erprobt.

Für Ergänzungen bin ich dankbar!


Donnerstag, 10. September 2015

Der sich selbstentwickelnde Charaktertypus





Der Charaktertypus, der uns Liberalen vorschwebt, ist der sich selbstentwickelnde Charakter, der einem Dirigenten, einem schaffenden Künstler gleich, sich ständig neu formt, entwirft und entfaltet. Dieser Charaktertypus vereint in sich die Offenheit und Flexibilität von Riesmans außengeleitetem Charakter mit der Wertorientierung und Verwurzelung des innengeleiteten Charakters. Der freiheitliche Mensch ist undogmatisch, offen für Neues und veränderbar. Aber ebenso weiß er stets, wer er ist, woher er kommt und wohin er will. Er vermeidet Beliebigkeit, verfügt über Lebenssinn, Ziel und Richtung. Wenn er über Sinn verfügt, hinterfragt er sich aber ständig und ist auf der Suche nach neuem Sinn und neuer Wahrheit. Wenn er ein Ziel verfolgt, so lässt er sich gerne vom Weg abbringen, denn der Weg zu sich selbst ist sein eigentliches Ziel. Wenn er in eine Richtung aufbricht, so rennt er nicht blindlings geradeaus, sondern schaut sich ständig um, verändert seine Richtung und kehrt vielleicht um, wenn er es für richtig befindet. Er ist ein kritischer Individualist. Seine bodenständige Verwurzeltheit und Wertorientierung ermöglicht ihm die weltoffene Exploration und experimentierfreudige Neugier und Suche nach sich selbst und seinen Möglichkeiten.

Samstag, 5. September 2015

Nach Finsterdeutschland Brücken bauen!




Der Bundespräsident hat im Zusammenhang mit der Flüchtlingskatastrophe von „Dunkeldeutschland“ gesprochen und dafür heftige Prügel bezogen, zum größten Teil, aber nicht nur, aus eben jenem gesellschaftlichen Segment, das er mit dem Begriff umschreiben wollte. Er habe gespalten, warf man ihm vor, die Republik in „hell“ und „dunkel“ geschieden, in „gut“ und „böse“. Das stehe einem Staatsoberhaupt nicht zu. Seine Aufgabe sei, das Volk zu versöhnen, nicht es zu spalten. Die Aufgabe des Bundespräsidenten ist aber auch, gesellschaftliche Entwicklungen zu benennen und sie im Sinne von Freiheit und Menschenwürde zu verändern. Und genau das hat Joachim Gauck getan.

Es gibt Dunkeldeutschland, daran kann kein Zweifel bestehen. Ich selbst habe es – etwas pathetischer - „Finsterdeutschland“ genannt und es einem „Lichtdeutschland“ gegenübergestellt. In Finsterdeutschland herrschen Zynismus und Menschenverachtung, Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit. Im Herz der Finsternis herrschen rohe Gewalt bis hin zum versuchten Mord. In Lichtdeutschland gibt es warme Empathie und bewunderungswürdiges soziales Engagement, Hilfe für Menschen in Not, humanitäre Initiative. Niemand, der in unseren Tagen unser Land bereist, wird daran zweifeln, dass es Lichtdeutschland und Finsterdeutschland gibt. Der Kontrast zwischen beiden ist zu offensichtlich.

Finsterdeutschland ist nicht nur „rechts“. Die politische Rechte versucht zwar, die Debatte zu dominieren und das Spektrum zu infiltrieren. Aber viele, die meisten der Wutbürger und Angstbürger sind ideologisch nicht festgelegt. Es gibt sogar bedeutende Strömungen der politischen Linken in Finsterdeutschland. Die Begriffe „rechts“ und „links“ sind ohnehin zunehmend fragwürdig und in vielen Debatten nicht hilfreich. Für mich ist die maßgebliche Unterscheidung "freiheitlich" versus "autoritär" bzw. "etatistisch". Und da verorten sich "Rechte" und "Linke" regelmäßig vereint im antifreiheitlichen Lager. Doch dies nur am Rande. Finsterdeutschland definiert sich durch die Verortung von Empathie und charakterlicher Größe oder ihr Fehlen. Nicht durch die politische Landkarte.

Längst nicht jeder Bürger der Republik lässt sich Licht- und Finsterdeutschand eindeutig zuordnen. Zwischen beidem liegt eine Grauzone. Deutschland im Dämmerungszustand gewissermaßen. Dabei kann man angesichts der Bilder des Flüchtlingselends nicht neutral bleiben. Man kann nur emotional und empathisch reagieren – oder abgestumpft. Viele Menschen haben sich sehr schwer getan mit der Veröffentlichung des Fotos des kleinen Jungen, angeschwemmt am Strand in der Türkei, Strandgut unserer fürchterlichen Zeit. Sehr viele Menschen kritisierten die Veröffentlichung aus sehr nachvollziehbaren und noblen Motiven heraus, sahen die Würde des individuellen Menschen verletzt oder konnten dieses Bild emotional einfach nicht bewältigen. Ich selbst habe das Foto des Jungen auf meiner Seite geteilt, mich aber sehr schwer damit getan. Ich hatte das Gefühl, dass man die Intimität verletzt, wenn man diesen individuellen Menschen zeigt. Andererseits hatte ich den Eindruck, dass man den Menschen als Opfer zeigen muss, um anzuklagen, um Veränderung zu bewirken. Das geht vielleicht nur mit stark emotionalisierenden Fotos. Und Veränderung zu bewirken, sind wir dem kleinen Jungen schuldig, fand ich.

Viele Menschen waren aber aus völlig anderen Motiven gegen dieses Foto. Jemand schrieb empört, überall sehe man Fotos von toten Kindern, abgetrennten Köpfen, Frauenleichen mit abgeschnittenen Brüsten. Er finde das fürchterlich, wolle das nicht sehen. Nun, vielleicht müssen wir Menschen mit sensiblen Gemütern auch diese Art von Selbstschutz zugestehen. Grundsätzlich finde ich aber, als Erwachsene müssen wir uns mit der Realität auseinandersetzen und sie verarbeiten. Da sind wir angesichts des Elends in der Welt verpflichtet, uns zu stellen und, nach Möglichkeit, Veränderung zu bewirken. Es geht darum, muss darum gehen, Not zu mildern und Leben zu retten. Nicht um unsere Befindlichkeiten. Und die Aufgabe der Medien besteht darin, uns die Wirklichkeit erfahrbar zu machen, Realitäten aufzuarbeiten. Nicht, uns in paternalistischer Absicht vor der Wirklichkeit zu schützen und damit letztlich zu infantilisieren.

Und dann gibt es jene – und hier bewegen wir uns schon mitten in Finsterdeutschland – die in der Veröffentlichung des Fotos Manipulation und Verhaltenssteuerung durch unsere „gutmenschlich-gleichgeschalteten Medien“ sahen. Es gehe nicht um Flüchtlinge, schrieb etwa Gerd Held in einer menschenverachtend-zynischen Kolumne. Mit diesem Begriff werde eine Notlage vorgetäuscht, die es im eigentlichen Wortsinn nicht gebe. Held entwarf den Mythos einer normativ verpflichtenden Rettungskultur, die von Griechenland und den Euro über das Klima bis zu den Kriegsflüchtlingen reiche, und sprach von "Nötigung der Semantik" und einer "Diktatur des Rettens", einer moralisierenden Meinungsmacht, die politisches Handeln ersetze. Damit gestaltet er Feindbilder und entwickelt ein gefährliches Schisma, indem er rationales Handeln und emotional-empathische Reaktion zu trennen versucht. „Rettungskultur“, „Nötigung der Semantik“, „Manipulation durch Emotion“. Bilder des kleinen Jungen würden genutzt, so Finsterdeutschlands Zyniker, um – in gutmenschlicher Absicht – unser Land mit Flüchtlingen „fluten“ zu können.

Apropos Gutmensch: ein Lieblingsbegriff in Finsterdeutschland. „Gutmenschen“ sind die Bürger Lichtdeutschlands, die sich um Flüchtlinge kümmern, ihnen helfen, in unser Land zu kommen. Und damit die Interessen Deutschlands verraten – so die weit verbreitete Auffassung in diesen Kreisen. Ich bin, um es klar zu sagen, niemand, der den Begriff „Gutmensch“ kategorisch ablehnt. „Gutmensch“ ist für mich der politisch Naive, der in wohlmeinender Absicht politisch handelt, ohne die langfristigen Folgen dieser Handlungen zu bedenken. Er handelt im Sinne Max Webers ausschließlich gesinnungsethisch, nicht verantwortungsethisch. Es gibt diesen Typus des politischen Akteurs und der Begriff hat aus meiner Sicht durchaus seine Berechtigung.
Die „besorgten Bürger“ Finsterdeutschlands verwechseln aber schlicht „Gutmenschen“ mit „guten Menschen“. Es gibt kein naives, rein gesinnungsethisch motiviertes Handeln in der Flüchtlingspolitik, das die Verantwortungsethik ausblendet. Es gibt hier nur Menschlichkeit versus Unmenschlichkeit, nur Empathie versus Abgestumpftheit, nur Solidarität versus Egoismus.

Nicht der Bundespräsident hat unser Land mit seiner Begrifflichkeit gespalten, denn es gab dieses Schisma in der öffentlichen Meinung und Darstellung schon vorher. Der Graben ist bittere Realität und er weitet sich. Wie lässt sich ein weiteres Auseinanderdriften unserer Bevölkerung verhindern, wie lassen sich Brücken bauen? Die Vorstellung, eine Brücke ins Herz der Finsternis* bauen zu können, ist wohl naiv. Zu groß scheinen dort die selbstverliebte Ignoranz, die Menschenverachtung und der Hass. Aber die weiten Randbereiche Finsterdeutschlands, die Bereiche der Dämmerung, sie scheinen erreichbar durch eine effektive Flüchtlingspolitik und eine wirkungsvolle politische Kommunikation, die es unternimmt, Ängste zu bewältigen. Dass es Ängste gibt, ist angesichts der großen Herausforderung, vor der Deutschland und Europa stehen, unvermeidlich. Deutschland und Europa werden sich durch die Flüchtlingsströme verändern, müssen sich verändern. Es kann nur darum gehen, im Interesse der Menschen in unserem Land, aber vor allem im Interesse der Menschen, die zu uns kommen, diese Ängste durch kluges politisches Handeln und bürgerschaftliches Engagement gemeinsam zu bewältigen.

-----
*Die Metapher "Herz der Finsternis" ist gewählt in Anlehnung an die Erzählung "Heart of Darkness" von Joseph Conrad, 1899.

Freitag, 21. August 2015

Erziehung bleibt Elternrecht und Elternpflicht!






Das Vorschulalter ist für die Entwicklung der Persönlichkeit von herausragender Bedeutung. Der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann fordert deshalb in einem Beitrag im neuen „liberal“-Magazin, in dieser sensiblen Phase den Einfluss des Staates auf die Kindererziehung massiv auszuweiten. Erst staatlicher Zugriff stelle Chancengerechtigkeit her, so Hurrelmann. Viele Kinder seien pädagogischer Unkenntnis und Mangelbereitschaft ihrer Eltern „auf Gedeih und Verderb“ ausgeliefert, erhielten in ihren Familien nicht die Anregungen und Unterstützungen, die sie für ihre körperliche, psychische, sprachliche, emotionale und intellektuelle Entwicklung unbedingt benötigten. Für sie seien staatliche Bildungseinrichtungen „überlebenswichtig“. Ohne sie fielen sie frühzeitig zurück und seien nicht in der Lage, den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens gerecht zu werden. Hurrelmann fordert deshalb einen möglichst hohen Anteil von Kindern in den vorschulischen Bildungseinrichtungen und einen möglichst langen Aufenthalt der Kinder in diesen Einrichtungen bei „intensiver Abstimmung der Erziehungsimpulse zwischen Elternhaus und Einrichtung“. Es sei falsch, Eltern die „absolute Monopolstellung bei der Erziehung, Pflege und Bildung der Kinder einzuräumen. Kurz gesagt fordert „Bildungsexperte“ Hurrelmann: Viel mehr Staat in der Kindererziehung.

Ich frage mich, was dieser Artikel überhaupt in einem liberalen Debattenmagazin zu suchen hat. Vielleicht war beabsichtigt, eine heftige liberale Immunreaktion hervorzurufen, denn nichts an Hurrelmanns Forderung ist liberal. Dem Liberalen stellen sich die Nackenhaare auf. Tatsächlich bedeutet Hurrelmanns „intensive Abstimmung“ nichts anderes, als das der Staat bei elterlicher Erziehung maßgeblich und überall mitbestimmt – von vorne bis hinten.

In unserem Grundgesetz heißt es in Artikel 6: „Erziehung und Pflege der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben dies in weiser Einsicht nach den grauenhaften Erfahrungen mit dem totalitären nationalsozialistischen Regime, das die Kindererziehung vollständig an sich gerissen hatte, so formuliert. Das war ausgesprochen liberal, denn es setzte ein hohes Maß an Vertrauen in die pädagogischen Fähigkeiten und in die Bereitschaft der Menschen. Es war aber auch deshalb liberal, weil es ein naturgegebenes Recht und eine naturgegebene Pflicht definierte, die sich aus dem Elternsein zwangsläufig ergibt.

Machen wir uns nichts vor: Staatliche Umerziehung und die mit ihr einhergehende Reifedegeneration und Erosion von Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit sowie die Auflösung solider traditioneller Familienstrukturen haben dazu geführt, dass viele Eltern den im Grundgesetz definierten Rechten und Pflichten bestenfalls noch rudimentär nachkommen und aus verschiedenenen Gründen auch gar nicht mehr in der Lage sind, dies leisten zu können. Für diese Kinder muss adäquate öffentliche Ersatzbetreuung sichergestellt werden. Als Liberale müssen wir aber daran festhalten, dass viele Eltern noch sehr wohl sowohl bereit als auch in der Lage sind, ihre Kinder entwicklungsgerecht zu fördern und zu erziehen. Wir müssen einerseits ihr Recht mit Zähnen und Klauen verteidigen, dies tun zu dürfen, als auch den unumkehrbaren Anspruch aufrechterhalten, sie niemals aus dieser elterlichen Verantwortung zu entlassen. Alles andere wäre zutiefst unliberal. Viele von uns sind noch weitgehend im privaten familiären Rahmen erzogen und liebevoll gefördert worden – in meinem Fall zum erheblichen Teil von den Großeltern. Die allermeisten von uns sind reife, verantwortungs- und handlungsfähige Menschen geworden. Wir müssen als Liberale dafür Sorge tragen, dass das so bleibt. Das bedeutet, grundsätzlich zunächst auf die Menschen zu setzen und ihnen die Erziehung ihrer Kinder zuzutrauen und auch zuzumuten - wie es immer schon war.

Dienstag, 18. August 2015

„tl,dr“ und die alte Kunst des Lesens


Gestern habe ich in einer Facebook-Gruppe meinen Essay über den liberalen Leitbegriff der „Leistung“ und gesellschaftliche Veränderungen der Leistungskultur eingestellt, nachdem ich schon zuvor dort versucht hatte, durch eine Fragestellung zum Thema und eine Verlinkung zum Essay eine Diskussion über das Thema in Gang zu bringen. Die Reaktionen waren äußerst dürftig gewesen. Auch gestern kam lange keine Reaktion auf den Text. Dann erschien als erste Reaktion nur das Kürzel „tl,dr“. Kurz darauf gab es ein „Like“ für diese mir kryptische Botschaft. Ich habe das dann mit wenig Hoffnung auf Erfolg gegoogelt, erfuhr aber sofort, dass es sich um eine in professionellen Autorenkreisen und auch im Internet durchaus übliche Textanmerkung handelt, die bedeutet: „too long, didn’t read“.

„Hättest Du eigentlich kennen müssen“, sagte meine innere Stimme, die aber dann gleich mit dem Hinweis vertröstet wurde, dass ich eben keine Journalistenausbildung besitze und meine Interneterfahrung auch noch begrenzt ist. Und für einen Deutsch- und Englischlehrer gehört das Kürzel nun mal nicht zum standardmäßig verwendeten Repertoire; es würde auch bei Schulleitung, Eltern und Schülern nicht gut angekommen sein, wenn ich an den Rand einer Schülerklausur geschrieben hätte: „too long, didn’t read“. Und auch als klinischer Psychologe könnte man gleich einpacken, wenn man Klientenschreiben oder Gutachten mit diesem Kürzel abhaken würde. Nun gut, ich hatte wieder was gelernt…

Ich schrieb dann (noch immer hatte es außer „tl,dr“ und dem „Like“ keine Reaktion auf meinen Text gegeben): „Selber Schuld. Wäre vielleicht lohnend gewesen…“ Und siehe da, plötzlich kam der freundliche Hinweis, sogar in Langform: „Was ich überflogen hab, fand ich auch recht interessant!“ Ich wollte erwidern: „…aber offenbar nicht interessant genug, um den Text zu Ende zu lesen“, verkniff es mir aber.

Schon seit längerer Zeit hatte ich das vage Gefühl, dass längere Texte mit komplexer Argumentationsstruktur in Internetforen nicht gut ankommen. Nun hatte ich es Schwarz auf Weiß und mir wurde bewusst, wie typisch dieses „too long, didn’t read“ für unsere Diskussionskultur im Internet war: Lange Texte, differenzierte Texte, die über einen BILDzeitungsartigen Aufmacher hinausgehen, werden schlicht nicht mehr gelesen.

Nun mag das durchaus ein Schutzmechanismus der Überforderten sein. Durch die Demokratisierung des Autorenmarktes, die das Internet gebracht hat, werden wir täglich mit Texten überschwemmt und, zugegeben, längst nicht alles, was veröffentlicht wird, ist von auch nur annähernd lohnenswerter Qualität. Dennoch bleibt bei allem psychologischen Verständnis für die Leseverweigerung ein deutlich unangenehmes Gefühl. Warum schreiben wir überhaupt, wenn die Texte ohnehin niemand liest? Ist nicht der Gewinn, den das Internet als demokratisierte Autorenbörse darstellt, eigentlich ein Verlust an Konsumentenkultur? Schnüffeln wir nicht nur noch oberflächlich über das megabreite Angebot von Fast-Food-Schreiberei, ohne noch wirklich zu lesen, ohne uns wirklich mit Meinungen, Argumentation auseinander zu setzen, erst recht ohne zu denken und nachzudenken? Es wäre schlimm, wenn die Twitterkultur tatsächlich das ersetzen würde, was einmal Lesekultur und Gesprächskultur war. Charakteristisch für diese Kultur war die Wertschätzung, die dem guten Buch und dem guten Gesprächspartner entgegengebracht wurde. Geht uns diese Wertschätzung, die oftmals begeistert war, an Liebe grenzte, verloren? Es wäre ein großer Verlust, wenn es so wäre, ein sehr wesentlicher, schmerzlicher Verlust.

Ich schaltete dann gestern den Computer frustriert aus und ging mit Hannah Arendts „Vita activa“ hinaus in den Garten um im Bambuswäldchen zu lesen, im alten, wunderschönen Sinne, was bedeutet: Sich zu öffnen, einzulassen. Sich zu begegnen.

Leistung – Plädoyer für einen liberalen Leitbegriff


„Leistung“ ist traditionell ein liberaler Leitbegriff. Lange Zeit hat der Begriff liberale Identität begründet: Man verstand sich in der liberalen Partei vor allem als in der Partei der Leistungserbringer. Doch wie unsere Leitbilddiskussion gezeigt hat, tun sich viele Liberale zunehmend schwer mit dem einstigen Leitbegriff und nicht wenige plädierten dafür, auf ihn ganz zu verzichten. Was ist die Ursache?

Für manche hat der Absturz in der Wählerunterstützung und das Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag nicht unwesentlich damit zu tun, dass die starke Orientierung am Leitbegriff „Leistung“ die Partei in Misskredit gebracht habe. Um welchen Leistungsbegriff ging es, wenn mantraartig immer wieder gefordert wurde: “Leistung muss sich wieder lohnen“? Ging es den Liberalen nicht primär um Klientelpolitik, um Steuerersparnis der Einkommenseliten? Ging es, wenn Westerwelle „spätrömische Dekadenz“ diagnostizierte, nicht vor allem darum, der arbeitenden, sich ohnehin weithin durch die Arbeitswelt überfordert fühlenden Bevölkerung noch mehr Belastung abzuverlangen, zu noch mehr Leistung aufzurufen, zu noch mehr Produktion oder Dienstleistung in noch kürzerer Zeit? Hat man die Zeichen der Zeit nicht erkannt, nicht wahrgenommen, dass postmaterielle, hedonistische Werte eine größere Bedeutung gewonnen haben und die protestantische Arbeitsethik Max Webers an Zuspruch verliert? Hat man nicht gesehen, dass mit der politischen Forderung nach Leistungsoptimierung in einer Wellness-Gesellschaft kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist?

Das Problem bestand sicher darin, dass nicht deutlich gemacht werden konnte, von welcherart Leistung man eigentlich redet. Ging es uns wirklich nur um Wettbewerbsdruck, Outputoptimierung und Kostensenkung, oder doch eher um das Menschheitsversprechen, dass Menschen sich entwickeln und zum eigenen Wohl, aber auch zum Wohle der Gesamtgesellschaft, das abrufen, was sie gerne tun und am besten können, also Leistungsoptimierung verstanden als ein Mehr an produktiver, kreativer Entfaltung? Und von wem sprach man eigentlich wenn man forderte, Leistung müsse sich wieder lohnen? Meinte man tatsächlich nur die Einkommenseliten? Oder doch auch die, die vor allem unter zunehmend erschwerten Arbeitsbedingungen tatsächlich gesamtgesellschaftlich relevante Leistung erbringen, die Leistungsträger auf der Straße also, für die es kaum noch Anerkennung gab und gibt? Ging es uns nur, oder doch wenigstens vor allem, um Spitzenleistungen einiger weniger, oder um Breitenleistung der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen in diesem Land?

Ein Problem besteht sicher darin, dass Leistung und Erfolg heute oft so weit auseinanderliegen. Forciert von den Medien, aber auch bedingt durch unsere Fixierung auf eine Bestenauswahl gibt es heute immer mehr „Winner-Take-All-Märkte“, in denen der Beste alles gewinnt, für die weniger Erfolgreichen aber wenig bis kaum etwas übrig bleibt. Längst gibt es diese Bestenauswahl nicht mehr nur in der Kulturszene, in den Medien oder im Sport. Auch Rechtsanwälte und Ärzte sind mittlerweile betroffen, ebenso Krankenhäuser und Schulen: Die „Winner-Take-All-Märkte“ breiten sich in unserer Gesellschaft aus.

Früher, in der Arbeitswelt unserer Eltern und Großeltern, lagen Leistung und Erfolg häufig sehr dicht beieinander. Die Bäckerei in der Stadt, der Gartenbaubetrieb auf dem Land forderten viel ab an Arbeitseinsatz, doch der Erfolg bemaß sich an der Leistung: Gute Qualität sicherte zufriedene Kunden und ordentliches Einkommen. Es gab wenig Konkurrenz, viele Streumärkte. Unternehmen und ihre Kunden waren aufeinander angewiesen. Die Arbeitszufriedenheit war entsprechend hoch, Ängste und Depressionen spielten – trotz hoher Arbeitsbelastung – in der Arbeitswelt eine geringe Rolle. Heute hingegen breiten sich Ängste und Depressionen immer mehr aus, weil die Arbeitswelt immer höheren Druck erzeugt und weil immer mehr Menschen in den „Winner-Take-All-Märkten“ sich an den wenigen Erfolgreichen orientieren, damit zu den Verlierern gehören und sich entsprechend so fühlen: Trotz hohen Arbeitseinsatzes warten kaum Erfolg und Anerkennung. Leistung und Erfolg klaffen auseinander. Leistung erbringen alle, doch Erfolg haben nur die Sieger. Leistung lohnt sich, das erfahren immer mehr Menschen täglich, schon längst nicht mehr. Und das nicht nur deshalb, weil die Steuerschrauben bei Leistungsträgern zu eng angezogen sind.
Hinzu kommt, dass bei der „Winner-Takes-All“-Konkurrenz der Sieger längst nicht immer, sogar in den wenigsten Fällen, tatsächlich der Beste ist. Es gewinnt, wer sich am besten verkauft. „Performance“ oder neudeutsch „Performanz“ ist das Zauberwort. Um Leistung im Sinne eines erbrachten Wohls für die Gemeinschaft geht es schon lange nicht mehr. Stattdessen um Selbstmarketing, um Verkaufsstrategie: Wie bringe ich mein Selbst am wirkungsvollsten zum Kunden. Selbstinszenierung ist zunehmend gefragt: Der, der den publikumswirksamsten Auftritt hinlegt. Über den man spricht. Das sind in der Regel nicht die, die am meisten leisten. Und die Besten sind es in der Regel auch nicht.

Für die innengeleitete Generation unserer Großeltern war nicht nur Leistung deckungsgleich mit Erfolg, sondern auch die Bildung. (Auch dies ein liberaler Leitbegriff, häufig zitiert, aber ebenso wie Leistung durchaus nicht unproblematisch, weil der Zusammenhang zum Lebenserfolg längst fraglich geworden ist). Bildung und Leistung bedingten einander. Gute Leistung setzte Bildung voraus, umgekehrt war Leistung die Voraussetzung von Bildung. Beides garantierte – zumindest in der Regel – auch Erfolg und gutes Einkommen. Wer fleißig war und einen akademischen Abschluss in der Tasche hatte, brauchte sich um gesicherte Anstellung keine Sorgen zu machen. Heute sind wir, ist vor allem die „Generation Praktikum“, davon meilenweit entfernt. Sicher ein Grund dafür, dass sich Liberale heute mit beiden Leitbegriffen, aber mit der „Leistung“ noch stärker als mit der „Bildung“, sehr viel schwerer tun als das Bildungsbürgertum vergangener Tage.

Wir leben in einer schwierigen Zeit. Vieles verändert sich, und doch bleibt auch vieles gleich. Die liberalen Leitwerte „Bildung“ und „Leistung“ verändern sich in ihrer alltagsweltlichen Fixierung und Justierung, und doch bleiben sie für Liberale konstitutiv. Wir können und dürfen nicht auf Leistung als Leitwert verzichten. Für Liberale ist Leistung das Produkt der entfalteten Persönlichkeit, also die Förderung und Entfaltung dessen, was Menschsein an sich ausmacht. Es geht darum, menschliche Möglichkeiten freizusetzen, Hindernisse und Hemmnisse zu beseitigen, Anreize zu setzen und Motivation zu befördern. Es geht dabei zunächst um Breitenleistung, um die Förderung der Möglichkeiten aller Menschen. Aber indem wir jeden dazu ermuntern und ihn unterstützen, sein Bestes zu geben, geht es uns auch um Spitzenleistung. Bei aller Fixierung auf den Gipfel dürfen wir aber niemals den Berg aus den Augen verlieren, der diesen Gipfel trägt.

Leistung, so verstanden, ist kein staubiges Relikt aus der Welt der protestantischen Arbeitsethik. Eine reine Wellness- und Freizeitgesellschaft ist auf Dauer nicht zu finanzieren. Und sie ist auch alles andere als chic. Dauerwellness führt zu Dauerlangeweile: Es gehört zur menschlichen Natur, zu entwickeln und zu gestalten. Der Schaffensdrang gehört zu unserer angeborenen Grundausstattung. Leistungsfeindlichkeit hingegen ist ein gruppenspezifisches Kunstprodukt, der menschlichen Psyche wesensfremd.

Ja, Leistung muss sich wieder lohnen. Aber gemeint sein muss der schwierige Arbeitseinsatz der Kranken- und Altenpflegerin und des Polizeibeamten im lebensgefährlichen Einsatz, nicht der Performanzerfolg des Mediensternchens, des hochbezahlten Profikickers, Wertpapierhändlers oder Börsenspekulanten. Wir dürfen nur „Leistung“ sagen, wenn wir auch „Leistung“ meinen und eben nicht den „Performanzerfolg“ durchaus umstrittener Zeitgenossen mit eher beschränktem Sinn für das Gemeinwohl. Wir brauchen einen Leistungsbegriff, hinter dem sich die Menschen versammeln, indem sie sich wiedererkennen können. Er darf nicht, wie es leider häufig der Fall war, in seiner psychischen Wirkung abschrecken und die Gesellschaft spalten. Mit einem solcherart klar definierten und sauber kommunizierten Leistungsbegriff brauchen wir uns dann auch nicht vor den Wählern verstecken.