Montag, 4. Dezember 2017

Die wertvollsten Momente im Leben


Die wertvollsten Momente im Leben

Da war so ein Septemberspätnachmittag im Südburgenland, mäßig warm, leicht bewölkt. Ein kleiner Buschenschank im Weinberg, rauhe, hölzerne Tische im Freien unter einem mächtigen Walnussbaum. Die Wirtin hat uns einladend hinaufgewunken, meine Frau und mich. Nur sehr wenige Urlauber kommen unter der Woche an den kleinen Holzhäuschen im Weinberg vorbei. Es ist völlig ruhig, weltvergessen. Die Wirtin ist sehr freundlich, hat einen reizenden südburgenländischen Akzent. Wir bestellen einen Uhudler, dazu Fladenbrot und Schmalz. Der Uhudler ist ein Cuvee aus roten Hybridsorten, Direktträger. Er schmeckt säurebetont, das Bukett ist äußerst intensiv und erinnert an Johannisbeeren oder schwarze Ribiseln, wie die Österreicher sagen.

Es ist ein einzigartiger Wein. Es sind einzigartige Momente. Wir genießen, sind uns nah, fühlen uns geborgen, empfinden intensive unverwechselbare Momente.

Dieser Wein schmeckt nie gleich. Es kommt auf die Reben an, auf den Boden und die Kunst der Winzerin. Aber es kommt auch und vor allem auf die Situation an, in der man ihn trinkt. An jenem Spätnachmittag kam es auf die Wolken an. Auf den Geruch in den Weinbergen. Auf den Walnussbaum und die rauhen Holztische. Auf die Freundlichkeit der Wirtin und auf die offene, gelöste Stimmung meiner Frau. Auf das Blümchenkleid, das sie trug und auf ihren Geruch. Auf ihr Lachen und den Wind in ihren Haaren. Alles zusammen ergab einen unverwechselbaren Geschmack des Uhudlers. Und unverwechselbare, einzigartige Momente.

Das Wertvolle im Leben ist das Einzigartige. Wertlos hingegen ist das Normale, das Typische, das Austauschbare. In unserer Massengesellschaft herrscht aber überall das Normale, das Typische und das Austauschbare vor. Die Massengesellschaft ist eine Gesellschaft des Wertlosen. Die wertvollen, einzigartigen Momente sind sehr selten geworden. Wir finden sie nur noch am Rande des Lebens, in der Provinz, an der Peripherie. Wie in jenem Buschenschank im Weinberg, im Grenzland zu Ungarn, wohin sich selten ein Urlauber verirrt.

Der Einmaligkeit des Erlebens entspricht die Einzigartigkeit des Menschen. Wir sind dann vollkommen menschlich, wenn wir einzigartig sind, individuell und unverwechselbar. Je unverwechselbarer wir sind, umso weniger entsprechen wir der Norm. Unsere Individualität müssen wir uns erkaufen um den Preis der Normalität und der Idealität. Je weniger wir der Norm entsprechen, umso mehr aber sind wir Persönlichkeit.

Persönlichkeit ist immer gerichtet auf Gemeinschaft. Erst in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft gewinnt die individuelle Persönlichkeit Identität. Umgekehrt gewinnt auch die Gemeinschaft ihren Charakter und ihre Identität erst aus dem Zusammenspiel freier, individueller Persönlichkeiten. Individualität und Gemeinschaft bedingen einander.

Das Gegenstück zur Gemeinschaft freier Menschen ist die Massengesellschaft. Die Gesellschaft der Masse kennt nur Nutzen und Funktionalität. Sie kennt keinen Sinn und keinen Wert. Ebenso wenig respektiert sie menschliche Freiheit und menschliche Würde. Die Massengesellschaft vergöttert den Typus, das Durchschnittliche und das Normale. Individualität und menschliche Freiheit müssen in der Massengesellschaft untergehen. Ebenso die menschliche Würde.

Menschen flüchten sich in die Masse, weil sie in der Masse der Verantwortlichkeit entgehen können. In der Masse sind alle gleich. Die Persönlichkeit löst sich auf im Kollektiv. Kollektive Nichtunterscheidbarkeit bedeutet kollektive Verantwortung. Kollektive Verantwortung bedeutet aber kollektive Verantwortungslosigkeit, denn am Ende ist jeder für alles und niemand für irgendetwas verantwortlich. Die Gesellschaft der Masse wird zum Konglomerat verantwortungsloser entpersönlichter Wesen.

Freiheit bedeutet die Loslösung von der Gebundenheit an den Typus. Den Mut zur Persönlichkeit jenseits der Norm. Die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung übernehmen zu wollen. Freiheit erwirkt das menschliche Ideal der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Sie macht uns zur Persönlichkeit und sowohl zum wertgebundenen wie zum wertvollen Wesen.

Finden wir doch den Mut zur Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, zur Freiheit und zur Verantwortung. Gehen wir hinaus in die abgelegenen Weinberge des Lebens und suchen wir doch die verborgenen Buschenschänken. Hier begegnet uns der unverwechselbar schmeckende Wein, hier treffen wir mit einigem Glück auf die Momente voller Wert und dem Bewusstsein menschlicher Würde.


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Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden. (Sokrates)

Mittwoch, 15. November 2017

DSM-Syndrom, Sexismusproblem (in Bearbeitung)

Wir können diese Scheindebatte als Teil dessen ansehen, was DSM-Syndrom genannt wird. Das DSM ist das "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) und ist eines der beiden dominierenden psychiatrischen Klassifikationssysteme. Die Anzahl der im DSM aufgeführten Krankheiten und Störungen ist stetig von 106 (DSM-I) auf heute 374 (DSM-5) angestiegen. Die aktuelle Version DSM 5 beschreibt als Neuerungen so richtungsweisende Diagnosen wie "Hypersexuelle Störung, Prämenstruelle Dysphorische Störung oder Disruptive Stimmungsdysregulationsstörung". Hier wird Verhalten systematisch pathologisiert und problematisiert, der Bereich des "Normalen" immer weiter ausgedünnt und Rarität zur Devianz erklärt. Wo einst Verhaltensvielfalt war, wird Normabweichung diagnostiziert. Das Normale ist aber ebenso wie das Korrekte ("political correctness") ein menschengemachtes Konstrukt. Machen wir diese Konstrukte zur Zielvorgabe von Verhalten, reduzieren wir Vielfalt, beschneiden wir Freiheit und befördern totalitäre Tendenzen.

 Das Problem ist nicht das DSM. Auch nicht, wieviel das Buch kostet. Das Problem ist die zunehmende Tendenz, Verhalten zu pathologisieren, zu problematisieren, als inkorrekt zu stigmatisieren und einer Normierung und Verhaltenskontrolle zu unterwerfen. Das erleben wir im DSM genauso wie in diesem Thread.

Sonntag, 5. November 2017

Gesundheitspsychologie

Die Gesundheitspsychologie ist der wissenschaftliche Beitrag der Psychologie zur:
  • Förderung und Erhaltung von Gesundheit
  • Prävention und Behandlung von Krankheiten
  • Förderung der Rehabilitation
  • Identifikation von psychischen Faktoren, die zur Entstehung von Krankheiten beitragen
  • Identifikation von Determinanten des Krankheitsbewältigungs- und Genesungsprozesses und zum
  • Einfluss des Zusammenwirkens zwischen Gesundheitssystem und Patient auf das individuelle Gesundheitsverhalten.
Die Gesundheitspsychologie beschäftigt sich mit personalen, sozialen und strukturellen Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen. Die Gesundheitspsychologie geht davon aus, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit, und vertritt ein positives Verständnis von Gesundheit. Sie entwickelt Theorien und Modelle zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung von gesundheitsbeeinträchtigenden und gesundheitsförderlichen Einstellungen und Verhaltensweisen und konstruiert Verfahren zu deren Diagnostik. Sie entwirft und evaluiert Interventionsprogramme, die zur primären, sekundären und tertiären Prävention sowie zur Unterstützung der Krankheitsverarbeitung eingesetzt werden und sowohl auf individueller als auch struktureller Ebene ansetzen.

Dienstag, 7. März 2017

Heimat - (k)ein Konzept für Liberale?


Liberale tun sich eher schwer mit dem Konzept der „Heimat“. Zum einen ist der Begriff historisch belastet, konnotiert mit der Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten. Damals wurde der Begriff stark regional verstanden und war verquickt mit rassistischem, ausgrenzendem und in Bezug auf die deutschen Ostgebiete häufig revanchistischem Gedankengut.

Zum anderen widerspricht das Heimatkonzept fundamental dem Typus des modernen krawattentragenden, magentafarbenen Freidemokraten, der sich gerne als Kosmopolit sieht: Maximal anpassungsfähig, mobil, flexibel, leistungs- und marktorientiert. Das Bodenständige, Gewachsene, Ursprüngliche und Identitäre, für das „Heimat“ steht, stört da nur. Bindung wird da leicht zur Anbindung, die an das Enge und Begrenzte fesselt.

Ist „Heimat“ also ein unliberales Konzept? Eines das wir lieber den Konservativen und Rechtspopulisten überlassen sollten?

Unbestritten erlebt der Heimatbegriff seit Jahren eine Renaissance – und das längst nicht nur in den konservativen und rechtspopulistischen Segmenten der Gesellschaft. Heimatgefühle feiern Hochkonjunktur und werden zum Sehnsuchtsort der Menschen. Ohne Zweifel müssen wir die Heimatwelle als Gegenbewegung zur globalisierten Welt verstehen, die den Menschen im Hinblick auf Mobilität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit immer mehr abverlangt und zunehmend viele Menschen überfordert. Es wäre ein großer Fehler, als Liberale dies nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen und leichtsinnig darüber hinweg zu gehen: Globalisierung bedeutet Bindungsverlust, Verlust an Sicherheit und Wohlbehagen. Masseneinwanderung bedeutet Bedrohung des Identitären und Gewachsenen. Gefühle von Entfremdung und das als bedrohlich wahrgenommene Fremde in der Lebenswelt generieren Ängste, die das Leben der Menschen zunehmend prägen.

Aus psychologischer Sicht bedeutet „Heimat“ vor allem Identität und Bindung. Heimat ist sehr viel weniger ein Ort, als ein Lebensgefühl: Das Heimatkonzept schafft Sicherheit und Wohlbehagen, Überschaubarkeit und das so wesentliche Gefühl der Kontrollkompetenz, das Vermögen von Menschen, ihre Lebenswelt und ihren Alltag beeinflussen, verändern und gestalten zu können. Dabei sind Menschen extrem unterschiedlich: Ihre Bewältigungsstrategien sind ganz verschieden und ihre Heimatbedürfnisse sind ganz verschieden. Der eine fühlt sich im Gewusel der Megacity wohl, der andere in der beschaulichen Kleinstadt schon überfordert. Was uns aber alle eint, ist, dass wir nach Bindung streben und nach Identität.

Wir dürfen als Liberale, die wir vielleicht aufgrund von Persönlichkeitsmerkmalen weltoffener sind, Entfremdungstendenzen weniger schmerzhaft wahrnehmen, flexibler und mobiler sind als Andere, nicht die überfordern, die es nicht sind. Unsere Politik muss sich auch und bevorzugt an denen orientieren, die stärkere Sicherheitsbedürfnisse haben, die Fremdheit stärker bedroht, die fundamentale Veränderung und rascher Wandel stärker ängstigt.

Meine These ist, dass wir als Liberale das Heimatkonzept und - damit verbunden – die Heimatbedürfnisse der Menschen nicht leichtfertig ignorieren dürfen. Wenn wir die Menschen ernstnehmen wollen, müssen wir auch ihre Heimatbedürfnisse ernstnehmen. Wir brauchen ein eigenes freiheitliches Heimatkonzept, das mehr verkörpert als Dirndlkleid, Volksmusik und rustikale Dorfgasthöfe mit Hirschgeweihen über dem Stammtisch. Ein freiheitliches Heimatkonzept muss mehr sein als Kitsch, muss weltoffen Begrenztheit und Enge überwinden, muss Lebensräume gestalten, die Bindung und Identität zulassen und ein Lebensgefühl kultivieren, das menschlichen Bedürfnislagen entspricht.

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Kann man Angst vor dem Begriff "Heimat" haben, wird gerade gefragt. Es gibt Heimatkonzepte und -begriffe, die in der Tat beängstigen können. Wir dürfen deshalb den Heimatbegriff nicht den Rechtspopulisten überlassen, sondern brauchen einen eigenen freiheitlichen Heimatbegriff, der auf Vielfalt und Weltoffenheit aufbaut und menschlichen (psychischen) Bedürfnislagen entspricht. Es geht darum, Heimaten zu schaffen und Lebenswelten zu fördern, die Identität, Bindung, Kontrolle und Angstfreiheit ermöglichen und damit Garanten für psychische Gesundheit sind. 

An dem Konzept oben sind zwei Aspekte durchaus ungewöhnlich und durchaus nicht gängige Definition: Einmal, dass ich von Heimat "schaffen" spreche. Und zum anderen, dass ich "Heimat" im Plural verwende. Heimat so verstanden ist nicht singulär, es gibt nicht "die Heimat", die man nur entweder für sich akzeptieren kann oder nicht, auf die man exklusive Anspruchsrechte erhebt und damit Andere ausschließt. Heimat so verstanden, muss ich mir selber schaffen, muss ich wählen, muss ich aktiv gestalten. Heimat so verstanden, ist völlig individuell auf mich bezogen und auf meine spezifischen Bedürfnisse. Jeder Mensch hat folglich eine andere eigene Heimat, die sie oder er für ein gutes, gesundes Leben braucht. Ein solcher Heimatbegriff ist dann auch nicht autoritär, wie Wolf Dermann meint.

Bild: Rinderhaltung bei Behrensdorf (Kreis Plön). Solche Landschaften zum Wohlfühlen können im besten Sinne Heimat sein.

Donnerstag, 23. Februar 2017

Krawattentod


Zerstörung eines Machtsymbols, sexueller Flirt oder Kastration - Wofür steht der Krawattentod?

Männern werden an Weiberfastnacht von Frauen die Krawatten abgeschnitten. Das Karnevalsritual ist seit dem frühen 19. Jahrhundert in vielen Teilen Deutschlands Tradition. Umstritten ist aber, was der Brauch genau symbolisiert: Für die einen fällt ein männliches Machtsymbol der Schere zum Opfer. Krawattenträger verkörpern danach als Angehörige der oberen Mittelschicht in Wirtschaft und Verwaltung häufig männliche Macht, denen die Frauen beim Angriff auf das Kleidungsstück symbolisch zu Leibe rücken. Für andere ist die Krawatte ein sexuelles Symbol, das durch Farbe und Form betont auf das männliche Geschlechtsteil verweist. Das Spiel mit dem Symbol sexueller Männlichkeit ist somit Teil eines Balzrituals, bei dem Frauen auf subtile Weise sexuell kommunizieren und gesellschaftlich akzeptiert ihr Interesse zum Ausdruck bringen. Nach anderer Ansicht werden sexuelle Gewaltphantasien ausgelebt: Das Abschneiden des Schlipses symbolisiert die Kastration des gefürchteten oder verachteten Mannes.

Freitag, 10. Februar 2017

Individualitätsanforderungen und Psychopathologie


Es gebe einen Zusammenhang zwischen Individualisierungsanforderungen und zunehmend häufigen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen in unserer Gesellschaft, meint die Soziologin Cornelia Koppetsch in ihrem Buch „Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte“. Die ständige Notwendigkeit, in der freiheitlichen Gesellschaft Individualität zu generieren, überfordere viele Menschen und mache sie psychisch krank. Auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg betont in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ den Zusammenhang zwischen Individualisierung und psychischen Erkrankungen. Die Ursache für stark zunehmende Erschöpfungsdepressionen und Angststörungen sieht er in ständig gestiegenen Anforderungen an Autonomie, Selbstverantwortung und Eigeninitiative, die gegenwärtig zunehmend schwierig zu realisieren seien. Nach Ehrenbergs Verständnis sei die Depression eine „Krankheit in der Verantwortlichkeit".
Sicher ist richtig, dass die Entfaltung von Individualität und der mühsame Prozess der Autonomiegewinnung Persönlichkeiten fordern und auch überfordern können. Nicht umsonst geben Menschen häufig ihrer Neigung nach, Freiheit und Verantwortung zu meiden und sich in bequeme Abhängigkeit und Bevormundung zu begeben. Es ist aber sicher nicht so, dass starke Individualitätsansprüche und Autonomieanforderungen per se krank machen. Das Problem liegt m.E. eher in Rollenansprüchen begründet, die eine Unterdrückung oder Verleugnung eigener Bedürfnisse erfordern und Menschen nicht so sein lassen, wie sie eigentlich sind. In diesem Druck zur Verformung, zur Uneigentlichkeit, liegt ein erhebliches psychisches Belastungsmoment begründet. Der Prozess hingegen, eine echte, authentische Persönlichkeit zu gestalten, ist anstrengend und fordernd, aber letztlich für die psychische Entwicklung förderlich und gewinnbringend. Gelungene Autonomie und Individuation wirkt sich in jedem Fall positiv auf die psychische Gesundheit aus.

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"Die Wiederkehr der Konformität - Streifzüge durch die gefährdete Mitte" von Cornelia Koppetsch bei der bpb: Schriftenreihe (Bd. 1654), 4,50 €
Der Status: Für viele kein Problemthema. Was aber, wenn es sozial, beruflich oder wirtschaftlich nicht (mehr) rund läuft und Abstiegsängste plagen? Die Autorin spürt solchen Lebensläufen nach und analysiert, welche Folgen sie für die Betroffenen zeitigen – auch und immer mehr in der Mitte der Gesellschaft.

Montag, 6. Februar 2017

Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?

Eine sehr empfehlenswerte neue Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung lädt ein, über politische Bildung, insbesondere in unseren Schulen, neu nachzudenken: "Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung".
Der Beutelsbacher Konsens war das Ergebnis einer sehr einflussreichen Tagung von Politikdidaktikern stark divergierender parteipolitischer Lager im Herbst 1976 im schwäbischen Beutelsbach. Der Konsens legte Grundsätze für heftig umstrittene Ziele und Methoden politischer Bildung fest.
Er formulierte drei pädagogische Prinzipien: Kontroversitätsgebot, Überwältigungsverbot und Befähigung zum politischen Handeln. Gemäß dem Überwältigungsverbot, auch Indoktrinationsverbot, dürfen Lehrer ihren Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen sie in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können. Das Gebot der Kontroversität zielt ebenfalls darauf ab, Schülern freie Meinungsbildung zu ermöglichen. Lehrer sollen ein Thema kontrovers darstellen und diskutieren, wenn es auch in Wissenschaft oder Politik kontrovers erscheint. Lehrermeinungen sind für den Unterricht unerheblich und dürfen nicht zur Überwältigung der Schüler eingesetzt werden. Das Prinzip der Schülerorientierung soll Schüler in die Lage versetzen, die politische Situation der Gesellschaft und ihre eigenen Positionen zu analysieren und sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer eigenen Interessen zu beeinflussen.
Aus heutiger Sicht ist kritisch zu fragen, ob der Beutelsbacher Konsens nicht durch seine Überbetonung des Kontroversen und die starke Handlungsorientierung in einer Zeit zunehmender Komplexität zur Orientierungslosigkeit und Verunsicherung von Schülern beiträgt und ob Schülern in einer Entwicklungsphase erheblicher psychologischer Verunsicherung nicht verstärkt glaubhafte Rollenmodelle und Vorbilder präsentiert werden sollten.

http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/236903/brauchen-wir-den-beutelsbacher-konsens


Indoktrination ist sicher ernstzunehmen. Aus meiner eigenen Erfahrung kenne ich das besonders von linken/grünen Lehrern, die stark ideologiegebunden unterrichtet haben. Als ebenso problematisch habe ich aber immer das völlige Fehlen von Orientierung empfunden, insbesondere in Bezug auf Wertediskussionen und moralische Maßstäbe. Häufig galt Werterelativismus als besonders chic und ein "anything goes" war die bestimmende Maxime. Desorientierung und Sinnkrise führen dann zu Anpassungsproblemen, Kriminalität und Drogenabusus, im Extremfall auch zum Suizid. 

In der Publikation wird z.B. kritisch diskutiert, ob das starke Neutralitätsgebot nicht politische Lethargie befördert und zum Rückzug der apolitischen Generation beigetragen haben könnte. Ebenso wird die starke Emanzipationsorientierung des Beutelsbacher Konsenses heute eher kritisch gesehen, wie insgesamt die 68er-Bewegung heute differenzierter gesehen wird. Von psychologischer Seite werden vor allem negative Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung betont. Die Wichtigkeit von Vorbildern und positiven Rollenmodellen wird wieder als wichtiger betrachtet, als es die 68er-Generation getan hat. Bindung und Identität wird gegenüber der Emanzipation wieder stärker geschätzt.

Die Betonung von Konflikt und Kontroverse richtete sich ja explizit gegen zwei Ausprägungen des herkömmlichen Politikunterrichts: Einmal die eher unpolitische und weitgehend deskriptive "Institutionenkunde", zum anderen die Vermittlung der Politik als harmonisierendes Miteinander, die das Verbindende der "Volksgemeinschaft" betonen sollte. Diese Wegwendung vom Gemeinsamen und Harmonisierenden hin zum Konfliktbetonten und Trennenden hat natürlich auch starke Auswirkungen auf das Menschenbild, das für gesellschaftliche Prozesse prägend ist. 

Zur Forderung nach Neutralität: Etliche Interpreten des Beutelsbacher Konsenses sind der Auffassung, dass Indoktrinationsverbot und Kontroversitätsgebot nicht zwangsläufig auch ein Neutralitätsgebot beinhalten oder beinhalten sollten. Ich teile diese Auffassung. Strikte Neutralität würde ja bedeuten, dass Lehrer ihre eigene Meinung nicht in den Unterricht einbringen dürften. Schüler brauchen aber Orientierung an authentischen Persönlichkeiten, deren Meinung und Verhalten auch Rollenmodell sein kann. Wichtiger als Neutralität eines Lehrers erscheint mir völlige Transparenz, damit Schüler in der Lage sind, Meinung und Verhalten in ein weltanschauliches Gesamtgefüge einordnen zu können. Pluralismus ist aber insofern zu fordern, als auch abweichenden Meinungen im Unterricht Raum einzuräumen ist. [...] Ich stimme Ihnen insofern völlig zu, dass Schüler authentische Persönlichkeiten brauchen, die auch Rollenmodell sein können. Eigene Meinung entsteht aber sehr häufig nicht durch bloßes Übernehmen, sondern durch Reibung an Lehrermeinung. Frau X hat sicher Recht, dass es Impulse des Lehrers bedarf, die über Ihre/seine authentische Darstellung eigener Meinung hinausgehen müssen. Aus meiner Sicht ist nicht strikte Neutralität des Lehrers zu fordern, wohl aber Transparenz, Authentizität und Echtheit, sowie kritisch-pluralistische Impulssetzung, um auch anderen Meinungen Raum zu geben und so eine Urteilsbildung der Schüler anzuregen.

Etliche Interpreten des Beutelsbacher Konsenses sind der Auffassung, dass Indoktrinationsverbot und Kontroversitätsgebot nicht zwangsläufig auch ein Neutralitätsgebot beinhalten oder beinhalten sollten. Ich teile diese Auffassung. Strikte Neutralität würde ja bedeuten, dass Lehrer ihre eigene Meinung nicht in den Unterricht einbringen dürften. Schüler brauchen aber Orientierung an authentischen Persönlichkeiten, deren Meinung und Verhalten auch Rollenmodell sein kann. Wichtiger als Neutralität eines Lehrers erscheint mir völlige Transparenz, damit Schüler in der Lage sind, Meinung und Verhalten in ein weltanschauliches Gesamtgefüge einordnen zu können. Pluralismus ist aber insofern zu fordern, als auch abweichenden Meinungen im Unterricht Raum einzuräumen ist.

Die Betonung von Konflikt und Kontroverse richtete sich ja explizit gegen zwei Ausprägungen des herkömmlichen Politikunterrichts: Einmal die eher unpolitische und weitgehend deskriptive "Institutionenkunde", zum anderen die Vermittlung der Politik als harmonisierendes Miteinander, die das Verbindende der "Volksgemeinschaft" betonen sollte. Diese Wegwendung vom Gemeinsamen und Harmonisierenden hin zum Konfliktbetonten und Trennenden hat natürlich auch starke Auswirkungen auf das Menschenbild, das für gesellschaftliche Prozesse prägend ist.

Ich stimme Ihnen insofern völlig zu, dass Schüler authentische Persönlichkeiten brauchen, die auch Rollenmodell sein können. Eigene Meinung entsteht aber sehr häufig nicht durch bloßes Übernehmen, sondern durch Reibung an Lehrermeinung. Frau R. hat sicher Recht, dass es Impulse des Lehrers bedarf, die über Ihre/seine authentische Darstellung eigener Meinung hinausgehen müssen. Aus meiner Sicht ist nicht strikte Neutralität des Lehrers zu fordern, wohl aber Transparenz, Authentizität und Echtheit, sowie kritisch-pluralistische Impulssetzung, um auch anderen Meinungen Raum zu geben und so eine Urteilsbildung der Schüler anzuregen.

Zeit für Martin!


Schulz reüssiert als Hoffnungsträger, der aus der apathisch-depressiven Stimmung von Alternativlosigkeit hinausführen kann - was man auch als Liberaler oder Konservativer sehr begrüßen mag. Dabei bietet er mit seinem Wieselwort-Thema der sozialen Gerechtigkeit zunächst lediglich eine gewaltige Projektionsfläche für unsere eigenen emotionalen Bedürfnisse. Wir wissen bisher kaum, wofür Martin Schulz konkret steht. Gerade die inhaltliche Unbestimmtheit und Fokussierung auf Emotion, Befindlichkeit und positives Lebensgefühl kann der AfD sehr schaden. Gemeinsam mit einem "Ernüchterungseffekt" als Reaktion auf Trump/Bannon könnte der Populismus-Effekt eines Kandidaten Schulz für deutlich sinkenden AfD-Zuspruch sorgen.

https://causa.tagesspiegel.de/kolumnen/kann-der-schulz-effekt-die-afd-stoppennbsp.html

Die Antrittsrede war Psychotherapie für die Volksseele. Seit gestern gibt es einen kaum noch für möglich gehaltenen Ausweg aus der kollektiven Mutlosigkeit und Depressivität, Alternativlosigkeit und Apathie von Merkel IV. Es gibt eine Alternative zur selbsternannten "Alternative" der Rechtspopulisten. Und es gibt Hoffnung und eine Perspektive auf Zukunft. Für den emotionalen Aufbruch und die mentale Selbstbefreiung müssen wir Martin Schulz dankbar sein. Für Liberale und Sozialdemokraten gilt es jetzt auszuloten, wo gemeinsame Grundlagen für ein tragfähiges Zukunftsbündnis bestehen. Denn eines muss Martin Schulz klar sein: Mit der Linkspartei wird seine Kandidatur zum Rohrkrepierer. Eine erfolgreiche Kanzlerschaft gibt es nur mit der FDP.

 Sicher ist manches nicht falsch, was Nicolaus Fest über Martin Schulz sagt. Er ist aber der Einzige, der die völlige Apathie von Merkel IV verhindern kann. Das Verhindern einer weiteren Amtszeit der alternativlosen Kanzlerin muss für uns oberste Priorität haben. Schulz vermittelt Lebensmut, Optimismus und das so notwendige Gefühl von Selbstwirksamkeit. Ja, es geht vor allem um Emotion und Lebensgefühl. Die Rechtspopulisten lassen sich nicht mit intellektueller Nüchternheit bekämpfen, sondern nur mit liberalen Antworten auf berechtigte Forderungen nach mehr Heimat, Identität und Bindung. Und auch das Wieselwort "Gerechtigkeit", auf das Schulz sich fokussiert, steht vor allem für ein Lebensgefühl. Die Antwort auf Trump und die AfD muss ein liberaler und demokratischer Populismus sein, der erfolgreich Bedürfnisse nach positiven Lebensgefühlen bedient.

In Mainz war die Ampel falsch, weil sie gegen die eigene Wahlkampfaussage zustande kam und uns unglaubwürdig gemacht hat. Im Bund könnte ein Zukunftsbündnis unter Schulz die bleierne Zeit der Merkel-Apathie beenden und eine echte Alternative für Deutschland eröffnen. Wir sollten uns einer solchen Vision der Erneuerung nicht verschließen und ernsthaft prüfen, inwieweit liberale Inhalte hier umgesetzt werden können. Ich prognostiziere mal: Wenn sich Schulz gegen rotgrünrote Spinnereien und für ein solides Bündnis mit der FDP entscheidet, dann wird es auch kommen.

Montag, 16. Januar 2017

Udo Ulfkotte: Die umstrittene Risikopersönlichkeit



Die Nachricht vom Tode Udo Ulfkottes hatte etwas Verstörendes. Die Kommentierungen anlässlich seines Todes haben es auch.

Wieder ein Mittfünfziger, den es dahinrafft. Ein Tod, der einem schmerzhaft die eigene Vergänglichkeit vor Augen führt. Ulfkotte war nur wenige Monate älter als ich.
Und wieder wird der Tod eines Menschen für Grabenkämpfe instrumentalisiert. Das liegt einerseits an Ulfkotte selbst, der ein Polarisierer war, der eher selten für Ausgleich und Verständigung eingetreten ist. Das liegt aber auch an unserer erhitzten, polarisierten Debattenkultur, die sich des Verstorbenen gewissenlos bemächtigt: Von den einen zum Helden und Märtyrer stilisiert, von den anderen zur verachteten Hassfigur, gnadenlos über den Tod hinaus.

Persönlich kannte ich Udo Ulfkotte während des Studiums in den frühen Achtzigern, als er der Konrad-Adenauer-Stiftung nahestand und später zur FAZ ging. Er hatte in Freiburg Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft studiert, war konservativ, ein genialer Analytiker, ein sehr guter Redner und ein gefürchteter Diskutant, scharfzüngig, belesen, bodenständig und doch weltoffen: Er, der Warsteiner Junge, bevorzugte italienischen Rotwein und Meeresfrüchte. Bier mochte er eher nicht.

Die herausragende Eigenschaft Ulfkottes war seine Hypersensibilität. Er hatte ein feines Gespür für gesellschaftliche Schwingungen und Veränderungen und für Strömungen des Zeitgeistes. Wahrnehmungen, die an eher phlegmatischen Zeitgenossen wie mir selbst unbemerkt vorübergingen. Und Udo Ulfkotte war ein unruhiger Geist. Ruhelos, ein Umtriebiger und Getriebener, damals schon.

Seine weitere Entwicklung konnte ich nur aus den Medien verfolgen: Große publizistische und journalistische Erfolge, aber auch heftig Umstrittenes, Scharfes, Polarisierendes, zunehmend Bizarres. Verschwörungstheorien, Geheimdienste, Kopp-Verlag, sein Auftritt bei PEGIDA im Januar 2015.
Seine Welt, so schien mir, hatte etwas Paranoides. Züge, die ich damals an ihm kannte, hatten sich offenbar verfestigt. Man las, er lebe zurückgezogen, im Wald, auf einem autarken Gelände , sein Haus zur Festung umgebaut, die Anschrift geheimgehalten. Nur der Pfarrer und der Bürgermeister wüssten, wo er wohne. Das Haus sei in einen See gebaut, mit eigener Strom- und Wasserversorgung. Wer sich ihm unerkannt nähern wolle, müsse erst über einen meterhohen Zaun und dann durch eine Gänseherde. Ulfkotte entwickelte sich zum bizarren Sonderling. Offenbar, so schien es, fühlte er sich bedroht und verfolgt. Überrascht haben mich diese Entwicklungen nicht. Die Grenze zwischen Genialität, Hypersensibilität und pathologischem Verfolgungswahn ist bekanntlich ein schmaler Grat.

Die Folge waren Herzinfarkte und offenbar eine Vielzahl psychosomatischer Leiden. Ulfkotte, der rastlos Getriebene, war der Prototyp der Typ-A-Persönlichkeit, jenes Menschentyps, der aufgrund von Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmalen in besonderer Weise für kardiovaskuläre Komplikationen anfällig scheint. Medizinisch betrachtet, war er ein Risikofall. Dass er mit 56 Jahren an einem Herzinfarkt verstirbt, ist zutiefst tragisch. Überraschend ist es nicht.

Bei Typ-A-Persönlichkeiten wird oft die Wahrnehmung eines feindlichen Weltbildes als pathogene Variable unterschätzt. Ulfkotte lebte im Daueralarmmodus, in einer feindseligen, ihn bedrohenden Welt. Er war eine gefährdete, eine Risikopersönlichkeit. Er konnte keinen Frieden mit seiner Lebenswelt machen und seine Lebenswelt nicht mit ihm. Am Ende bleibt der Eindruck einer tragischen und irregeleiteten Persönlichkeit, die wenig Nutzen aus einer großen Begabung gezogen und bei aller Genialität wenig zur inneren Befriedung unserer Gesellschaft beigetragen hat.

Udo Ulfkotte, der fried- und ruhelose Streiter, war aufrecht und ehrlich, ein redlicher Kamerad und bei aller Schwierigkeit seiner Persönlichkeit ein guter Mensch. Im Tod hat er seinen verdienten Frieden gefunden. Bleibt zu hoffen, dass wir uns bei aller unterschiedlichen Bewertung seiner Lebensleistung bemühen werden, dem Toten seine Würde zu lassen und seinen Frieden. Und dass so allmählich auch unsere gesellschaftliche Debattenkultur zu einem friedlichen Miteinander zurückfindet.

Samstag, 7. Januar 2017

Die FDP und das große "DU"


Die FDP rückt das große DU ins Zentrum der Wähleransprache. Das Konzept scheint einem Einführungslehrbuch in die Pädagogische Psychologie entnommen: Die ultimative Ansprache des Gegenübers und seine ultimative Wertschätzung. Es geht mir um Dich! Du bist mir wichtig! Du in Deiner individuellen Lebenswelt und subjektiven Befindlichkeit. Wir wollen, dass Du über dein Leben entscheidest. Denn es verändert sich erst dann etwas in unserem Land, wenn Du etwas veränderst. Deine Selbstwirksamkeit liegt uns am Herzen.

Der so ultimativ Angesprochene ist ausdrücklich jeder in der Gesellschaft, der sich so angesprochen fühlt. In besonderer Weise ist aber das DU in der Mitte der Gesellschaft gemeint. Die „Mitte der Gesellschaft“ steht dabei einerseits für die erodierende und stark belastete, von Abstiegsängsten geplagte sozioökonomische Mittelschicht unserer Gesellschaft. Sie steht in einer Debattenkultur, die zunehmend von den Rändern der Gesellschaft her bestimmt wird, auch für die ebenso erodierende und durch scharfe Polarisierung und Fragmentierung bedrohte kulturelle bürgerlich-zivile Mitte zwischen dem Hegemon des linksgrünen, politisch-korrekten Zeitgeistes und dem Rechtspopulismus. Und sie steht für ein bodenständig-verwurzeltes Lebensgefühl von Mittigkeit, für Optimismus, Angstfreiheit und Mut, für Selbstbewusstsein und Solidität, Nüchternheit, Gleichmut und ausgewogenes Denken.

Die "Mitte unserer Gesellschaft" hat also viel Gemeinsamkeit mit den Begriffen "Mittelschicht" und "Mittelstand", aber sie ist längst nicht dasselbe. "Mittelschicht" ist ein sozioökonomischer Schichtungsbegriff, der weit über das Ökonomische hinausgeht und z.B. Bildung und Kultur umfasst. "Mittelstand" ist ein ökonomischer Begriff und beschreibt kleine und mittlere Unternehmen, insbesondere Familienunternehmen, und Freiberufler. Die "Mitte der Gesellschaft" ist ein politisch-soziologischer Begriff, der die gefährdeten und erodierenden stabilen und innovativen Teile der Gesellschaft beschreibt. Wir dürfen "Mittelschicht" und "Mitte der Gesellschaft" keinesfalls gleichsetzen. Beides hängt eng zusammen, ist aber nur zum Teil deckungsgleich.

Die „Mitte der Gesellschaft“ wird nach Dreikönig im Superwahljahr zum Leitmotiv und Leitkonzept unserer Partei - verstanden nicht als diffuses „Wir“, sondern als Konglomerat vieler individueller „Dus“ mit betont eigenem Anspruch. Persönlicher und wertschätzender kann eine Partei ihre Wähler nicht ansprechen: Die psychologisch hervorragend fundierte Kampagne lässt für die anstehenden Wahlkämpfe allemal hoffen.


Mittwoch, 4. Januar 2017

Heimat: Bindung und Identität


Hervorragendes Thema und sehr guter Text von Liane Bednarz.
 https://causa.tagesspiegel.de/kolumnen/die-neurechten-haben-den-heimat-begriff-nicht-gepachtetnbsp.html 


Liberale müssen diese Debatte offensiv führen und klar machen, dass Heimat kein Konzept von Begrenztheit und geschlossener Gesellschaft ist, sondern mit Offenheit, Liberalität und Weltläufigkeit durchaus kompatibel ist. Wir müssen Heimat von unseren psychischen Notwendigkeiten her denken: Als selbstgewähltes und selbstgeschaffenes Konglomerat von Lebensverhältnissen, die uns in individuell völlig verschiedener Ausprägung Bindung und Identität konstituieren und Angstfreiheit, sichere Verwurzelung und Wohlbehagen und damit letztlich Gesundheit garantieren.


 Für den Heimatbegriff sind aus psychologischer Sicht ja vor allem "Bindung" und "Identität" konstitutiv. Beide Konzepte sind genauso vielfältig füllbar, wie es unterschiedliche Persönlichkeiten gibt. Sie eindeutig auf das Deutsche, also das National-Kulturelle auszurichten, wie die Neurechten das tun, ist keineswegs zwangsläufig. Naheliegender wäre ohnehin, den Heimatbegriff am Regionalen oder gar Lokalen auszurichten, wo Bindung und Identität viel intensiver erlebbar sind. Wir müssen allerdings sehen, dass Bindungs- und Identitätsbedürfnisse von Menschen im deutlichen Spannungsfeld zur globalisierten und pluralistischen Massengesellschaft stehen und durch Entfremdungstendenzen bedroht sind. Zunehmend erlebte Fremdheit in der Alltagswelt geht sehr stark mit der Erosion von Bindungs- und Identitätsgefühl einher und bedeutet letztendlich Heimatverlust. Diese berechtigten Verlustängste müssen die bürgerlichen Parteien sehr ernstnehmen und dürfen das Thema nicht den Neurechten überlassen.

Heimat bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Auch Heimatverluste werden völlig verschieden erlebt. Wir müssen uns klarmachen, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung von Bindungsverlust und Identitätsverlust völlig unterschiedlich sind und auch in ihrer Toleranz- und Kompensationsfähigkeit. Was der eine kaum wahrnimmt, bedeutet für die andere eine gewaltige Bedrohung und Verlusterfahrung. 

Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es aber auch große Gemeinsamkeiten zwischen Menschen, die in unserer Evolutionsgeschichte wurzeln. Wir dürfen nie vergessen, wo wir mit unserem Primatenhintergrund herkommen: Das "environment of evolutionary adaptedness (EEA)", also die Lebensumwelt, in der unsere psychischen Apparate heranreiften, war gering besiedelt, sehr überschaubar, sehr begrenzt, sehr homogen strukturiert und über ein Menschenleben hinweg kaum veränderlich. Unsere Alltagswelt ist in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil. Es wäre ein absolutes Wunder, wenn es in dieser Lebenswelt nicht zu massiven Anpassungsproblemen und psychischen Störungen kommen würde.