Freitag, 10. Februar 2017

Individualitätsanforderungen und Psychopathologie


Es gebe einen Zusammenhang zwischen Individualisierungsanforderungen und zunehmend häufigen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen in unserer Gesellschaft, meint die Soziologin Cornelia Koppetsch in ihrem Buch „Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte“. Die ständige Notwendigkeit, in der freiheitlichen Gesellschaft Individualität zu generieren, überfordere viele Menschen und mache sie psychisch krank. Auch der französische Soziologe Alain Ehrenberg betont in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ den Zusammenhang zwischen Individualisierung und psychischen Erkrankungen. Die Ursache für stark zunehmende Erschöpfungsdepressionen und Angststörungen sieht er in ständig gestiegenen Anforderungen an Autonomie, Selbstverantwortung und Eigeninitiative, die gegenwärtig zunehmend schwierig zu realisieren seien. Nach Ehrenbergs Verständnis sei die Depression eine „Krankheit in der Verantwortlichkeit".
Sicher ist richtig, dass die Entfaltung von Individualität und der mühsame Prozess der Autonomiegewinnung Persönlichkeiten fordern und auch überfordern können. Nicht umsonst geben Menschen häufig ihrer Neigung nach, Freiheit und Verantwortung zu meiden und sich in bequeme Abhängigkeit und Bevormundung zu begeben. Es ist aber sicher nicht so, dass starke Individualitätsansprüche und Autonomieanforderungen per se krank machen. Das Problem liegt m.E. eher in Rollenansprüchen begründet, die eine Unterdrückung oder Verleugnung eigener Bedürfnisse erfordern und Menschen nicht so sein lassen, wie sie eigentlich sind. In diesem Druck zur Verformung, zur Uneigentlichkeit, liegt ein erhebliches psychisches Belastungsmoment begründet. Der Prozess hingegen, eine echte, authentische Persönlichkeit zu gestalten, ist anstrengend und fordernd, aber letztlich für die psychische Entwicklung förderlich und gewinnbringend. Gelungene Autonomie und Individuation wirkt sich in jedem Fall positiv auf die psychische Gesundheit aus.

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"Die Wiederkehr der Konformität - Streifzüge durch die gefährdete Mitte" von Cornelia Koppetsch bei der bpb: Schriftenreihe (Bd. 1654), 4,50 €
Der Status: Für viele kein Problemthema. Was aber, wenn es sozial, beruflich oder wirtschaftlich nicht (mehr) rund läuft und Abstiegsängste plagen? Die Autorin spürt solchen Lebensläufen nach und analysiert, welche Folgen sie für die Betroffenen zeitigen – auch und immer mehr in der Mitte der Gesellschaft.

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