„tl,dr“ und die alte Kunst des Lesens
Gestern habe ich in einer Facebook-Gruppe meinen Essay über den liberalen Leitbegriff der „Leistung“ und gesellschaftliche Veränderungen der Leistungskultur eingestellt, nachdem ich schon zuvor dort versucht hatte, durch eine Fragestellung zum Thema und eine Verlinkung zum Essay eine Diskussion über das Thema in Gang zu bringen. Die Reaktionen waren äußerst dürftig gewesen. Auch gestern kam lange keine Reaktion auf den Text. Dann erschien als erste Reaktion nur das Kürzel „tl,dr“. Kurz darauf gab es ein „Like“ für diese mir kryptische Botschaft. Ich habe das dann mit wenig Hoffnung auf Erfolg gegoogelt, erfuhr aber sofort, dass es sich um eine in professionellen Autorenkreisen und auch im Internet durchaus übliche Textanmerkung handelt, die bedeutet: „too long, didn’t read“.
„Hättest Du eigentlich kennen müssen“, sagte meine innere Stimme, die aber dann gleich mit dem Hinweis vertröstet wurde, dass ich eben keine Journalistenausbildung besitze und meine Interneterfahrung auch noch begrenzt ist. Und für einen Deutsch- und Englischlehrer gehört das Kürzel nun mal nicht zum standardmäßig verwendeten Repertoire; es würde auch bei Schulleitung, Eltern und Schülern nicht gut angekommen sein, wenn ich an den Rand einer Schülerklausur geschrieben hätte: „too long, didn’t read“. Und auch als klinischer Psychologe könnte man gleich einpacken, wenn man Klientenschreiben oder Gutachten mit diesem Kürzel abhaken würde. Nun gut, ich hatte wieder was gelernt…
Ich schrieb dann (noch immer hatte es außer „tl,dr“ und dem „Like“ keine Reaktion auf meinen Text gegeben): „Selber Schuld. Wäre vielleicht lohnend gewesen…“ Und siehe da, plötzlich kam der freundliche Hinweis, sogar in Langform: „Was ich überflogen hab, fand ich auch recht interessant!“ Ich wollte erwidern: „…aber offenbar nicht interessant genug, um den Text zu Ende zu lesen“, verkniff es mir aber.
Schon seit längerer Zeit hatte ich das vage Gefühl, dass längere Texte mit komplexer Argumentationsstruktur in Internetforen nicht gut ankommen. Nun hatte ich es Schwarz auf Weiß und mir wurde bewusst, wie typisch dieses „too long, didn’t read“ für unsere Diskussionskultur im Internet war: Lange Texte, differenzierte Texte, die über einen BILDzeitungsartigen Aufmacher hinausgehen, werden schlicht nicht mehr gelesen.
Nun mag das durchaus ein Schutzmechanismus der Überforderten sein. Durch die Demokratisierung des Autorenmarktes, die das Internet gebracht hat, werden wir täglich mit Texten überschwemmt und, zugegeben, längst nicht alles, was veröffentlicht wird, ist von auch nur annähernd lohnenswerter Qualität. Dennoch bleibt bei allem psychologischen Verständnis für die Leseverweigerung ein deutlich unangenehmes Gefühl. Warum schreiben wir überhaupt, wenn die Texte ohnehin niemand liest? Ist nicht der Gewinn, den das Internet als demokratisierte Autorenbörse darstellt, eigentlich ein Verlust an Konsumentenkultur? Schnüffeln wir nicht nur noch oberflächlich über das megabreite Angebot von Fast-Food-Schreiberei, ohne noch wirklich zu lesen, ohne uns wirklich mit Meinungen, Argumentation auseinander zu setzen, erst recht ohne zu denken und nachzudenken? Es wäre schlimm, wenn die Twitterkultur tatsächlich das ersetzen würde, was einmal Lesekultur und Gesprächskultur war. Charakteristisch für diese Kultur war die Wertschätzung, die dem guten Buch und dem guten Gesprächspartner entgegengebracht wurde. Geht uns diese Wertschätzung, die oftmals begeistert war, an Liebe grenzte, verloren? Es wäre ein großer Verlust, wenn es so wäre, ein sehr wesentlicher, schmerzlicher Verlust.
Ich schaltete dann gestern den Computer frustriert aus und ging mit Hannah Arendts „Vita activa“ hinaus in den Garten um im Bambuswäldchen zu lesen, im alten, wunderschönen Sinne, was bedeutet: Sich zu öffnen, einzulassen. Sich zu begegnen.
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