Montag, 29. Juni 2015

Leistung – Plädoyer für einen liberalen Leitbegriff

Leistung – Plädoyer für einen liberalen Leitbegriff

„Leistung“ ist traditionell ein liberaler Leitbegriff. Lange Zeit hat der Begriff liberale Identität begründet: Man verstand sich in der liberalen Partei vor allem als in der Partei der Leistungserbringer. Doch wie unsere Leitbilddiskussion gezeigt hat, tun sich viele Liberale zunehmend schwer mit dem einstigen Leitbegriff und nicht wenige plädierten dafür, auf ihn ganz zu verzichten. Was ist die Ursache?

Für manche hat der Absturz in der Wählerunterstützung und das Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag nicht unwesentlich damit zu tun, dass die starke Orientierung am Leitbegriff „Leistung“ die Partei in Misskredit gebracht habe. Um welchen Leistungsbegriff ging es, wenn mantraartig immer wieder gefordert wurde: “Leistung muss sich wieder lohnen“? Ging es den Liberalen nicht primär um Klientelpolitik, um Steuerersparnis der Einkommenseliten? Ging es, wenn Westerwelle „spätrömische Dekadenz“ diagnostizierte, nicht vor allem darum, der arbeitenden, sich ohnehin weithin durch die Arbeitswelt überfordert fühlenden Bevölkerung noch mehr Belastung abzuverlangen, zu noch mehr Leistung aufzurufen, zu noch mehr Produktion oder Dienstleistung in noch kürzerer Zeit? Hat man die Zeichen der Zeit nicht erkannt, nicht wahrgenommen, dass postmaterielle, hedonistische Werte eine größere Bedeutung gewonnen haben und die protestantische Arbeitsethik Max Webers an Zuspruch verliert? Hat man nicht gesehen, dass mit der politischen Forderung nach Leistungsoptimierung in einer Wellness-Gesellschaft kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist?

Das Problem bestand sicher darin, dass nicht deutlich gemacht werden konnte, von welcherart Leistung man eigentlich redet. Ging es uns wirklich nur um Wettbewerbsdruck, Outputoptimierung und Kostensenkung, oder doch eher um das Menschheitsversprechen, dass Menschen sich entwickeln und zum eigenen Wohl, aber auch zum Wohle der Gesamtgesellschaft, das abrufen, was sie gerne tun und am besten können, also Leistungsoptimierung verstanden als ein Mehr an produktiver, kreativer Entfaltung? Und von wem sprach man eigentlich wenn man forderte, Leistung müsse sich wieder lohnen? Meinte man tatsächlich nur die Einkommenseliten? Oder doch auch die, die vor allem unter zunehmend erschwerten Arbeitsbedingungen tatsächlich gesamtgesellschaftlich relevante Leistung erbringen, die Leistungsträger auf der Straße also, für die es kaum noch Anerkennung gab und gibt? Ging es uns nur, oder doch wenigstens vor allem, um Spitzenleistungen einiger weniger, oder um Breitenleistung der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen in diesem Land?

Ein Problem besteht sicher darin, dass Leistung und Erfolg heute oft so weit auseinanderliegen. Forciert von den Medien, aber auch bedingt durch unsere Fixierung auf eine Bestenauswahl gibt es heute immer mehr „Winner-Take-All-Märkte“, in denen der Beste alles gewinnt, für die weniger Erfolgreichen aber wenig bis kaum etwas übrig bleibt. Längst gibt es diese Bestenauswahl nicht mehr nur in der Kulturszene, in den Medien oder im Sport. Auch Rechtsanwälte und Ärzte sind mittlerweile betroffen, ebenso Krankenhäuser und Schulen: Die „Winner-Take-All-Märkte“ breiten sich in unserer Gesellschaft aus.

Früher, in der Arbeitswelt unserer Eltern und Großeltern, lagen Leistung und Erfolg häufig sehr dicht beieinander. Die Bäckerei in der Stadt, der Gartenbaubetrieb auf dem Land forderten viel ab an Arbeitseinsatz, doch der Erfolg bemaß sich an der Leistung: Gute Qualität sicherte zufriedene Kunden und ordentliches Einkommen. Es gab wenig Konkurrenz, viele Streumärkte. Unternehmen und ihre Kunden waren aufeinander angewiesen. Die Arbeitszufriedenheit war entsprechend hoch, Ängste und Depressionen spielten – trotz hoher Arbeitsbelastung – in der Arbeitswelt eine geringe Rolle. Heute hingegen breiten sich Ängste und Depressionen immer mehr aus, weil die Arbeitswelt immer höheren Druck erzeugt und weil immer mehr Menschen in den „Winner-Take-All-Märkten“ sich an den wenigen Erfolgreichen orientieren, damit zu den Verlierern gehören und sich entsprechend so fühlen: Trotz hohen Arbeitseinsatzes warten kaum Erfolg und Anerkennung. Leistung und Erfolg klaffen auseinander. Leistung erbringen alle, doch Erfolg haben nur die Sieger. Leistung lohnt sich, das erfahren immer mehr Menschen täglich, schon längst nicht mehr. Und das nicht nur deshalb, weil die Steuerschrauben bei Leistungsträgern zu eng angezogen sind.
Hinzu kommt, dass bei der „Winner-Takes-All“-Konkurrenz der Sieger längst nicht immer, sogar in den wenigsten Fällen, tatsächlich der Beste ist. Es gewinnt, wer sich am besten verkauft. „Performance“ oder neudeutsch „Performanz“ ist das Zauberwort. Um Leistung im Sinne eines erbrachten Wohls für die Gemeinschaft geht es schon lange nicht mehr. Stattdessen um Selbstmarketing, um Verkaufsstrategie: Wie bringe ich mein Selbst am wirkungsvollsten zum Kunden. Selbstinszenierung ist zunehmend gefragt: Der, der den publikumswirksamsten Auftritt hinlegt. Über den man spricht. Das sind in der Regel nicht die, die am meisten leisten. Und die Besten sind es in der Regel auch nicht.

Für die innengeleitete Generation unserer Großeltern war nicht nur Leistung deckungsgleich mit Erfolg, sondern auch die Bildung. (Auch dies ein liberaler Leitbegriff, häufig zitiert, aber ebenso wie Leistung durchaus nicht unproblematisch, weil der Zusammenhang zum Lebenserfolg längst fraglich geworden ist). Bildung und Leistung bedingten einander. Gute Leistung setzte Bildung voraus, umgekehrt war Leistung die Voraussetzung von Bildung. Beides garantierte – zumindest in der Regel – auch Erfolg und gutes Einkommen. Wer fleißig war und einen akademischen Abschluss in der Tasche hatte, brauchte sich um gesicherte Anstellung keine Sorgen zu machen. Heute sind wir, ist vor allem die „Generation Praktikum“, davon meilenweit entfernt. Sicher ein Grund dafür, dass sich Liberale heute mit beiden Leitbegriffen, aber mit der „Leistung“ noch stärker als mit der „Bildung“, sehr viel schwerer tun als das Bildungsbürgertum vergangener Tage.

Wir leben in einer schwierigen Zeit. Vieles verändert sich, und doch bleibt auch vieles gleich. Die liberalen Leitwerte „Bildung“ und „Leistung“ verändern sich in ihrer alltagsweltlichen Fixierung und Justierung, und doch bleiben sie für Liberale konstitutiv. Wir können und dürfen nicht auf Leistung als Leitwert verzichten. Für Liberale ist Leistung das Produkt der entfalteten Persönlichkeit, also die Förderung und Entfaltung dessen, was Menschsein an sich ausmacht. Es geht darum, menschliche Möglichkeiten freizusetzen, Hindernisse und Hemmnisse zu beseitigen, Anreize zu setzen und Motivation zu befördern. Es geht dabei zunächst um Breitenleistung, um die Förderung der Möglichkeiten aller Menschen. Aber indem wir jeden dazu ermuntern und ihn unterstützen, sein Bestes zu geben, geht es uns auch um Spitzenleistung. Bei aller Fixierung auf den Gipfel dürfen wir aber niemals den Berg aus den Augen verlieren, der diesen Gipfel trägt.

Leistung, so verstanden, ist kein staubiges Relikt aus der Welt der protestantischen Arbeitsethik. Eine reine Wellness- und Freizeitgesellschaft ist auf Dauer nicht zu finanzieren. Und sie ist auch alles andere als chic. Dauerwellness führt zu Dauerlangeweile: Es gehört zur menschlichen Natur, zu entwickeln und zu gestalten. Der Schaffensdrang gehört zu unserer angeborenen Grundausstattung. Leistungsfeindlichkeit hingegen ist ein gruppenspezifisches Kunstprodukt, der menschlichen Psyche wesensfremd.

Ja, Leistung muss sich wieder lohnen. Aber gemeint sein muss der schwierige Arbeitseinsatz der Kranken- und Altenpflegerin und des Polizeibeamten im lebensgefährlichen Einsatz, nicht der Performanzerfolg des Mediensternchens, des hochbezahlten Profikickers, Wertpapierhändlers oder Börsenspekulanten. Wir dürfen nur „Leistung“ sagen, wenn wir auch „Leistung“ meinen und eben nicht den „Performanzerfolg“ durchaus umstrittener Zeitgenossen mit eher beschränktem Sinn für das Gemeinwohl. Wir brauchen einen Leistungsbegriff, hinter dem sich die Menschen versammeln, indem sie sich wiedererkennen können. Er darf nicht, wie es leider häufig der Fall war, in seiner psychischen Wirkung abschrecken und die Gesellschaft spalten. Mit einem solcherart klar definierten und sauber kommunizierten Leistungsbegriff brauchen wir uns dann auch nicht vor den Wählern verstecken.

„tl,dr“ und die alte Kunst des Lesens


„tl,dr“ und die alte Kunst des Lesens

Gestern habe ich in einer Facebook-Gruppe meinen Essay über den liberalen Leitbegriff der „Leistung“ und gesellschaftliche Veränderungen der Leistungskultur eingestellt, nachdem ich schon zuvor dort versucht hatte, durch eine Fragestellung zum Thema und eine Verlinkung zum Essay eine Diskussion über das Thema in Gang zu bringen. Die Reaktionen waren äußerst dürftig gewesen. Auch gestern kam lange keine Reaktion auf den Text. Dann erschien als erste Reaktion nur das Kürzel „tl,dr“. Kurz darauf gab es ein „Like“ für diese mir kryptische Botschaft. Ich habe das dann mit wenig Hoffnung auf Erfolg gegoogelt, erfuhr aber sofort, dass es sich um eine in professionellen Autorenkreisen und auch im Internet durchaus übliche Textanmerkung handelt, die bedeutet: „too long, didn’t read“.

„Hättest Du eigentlich kennen müssen“, sagte meine innere Stimme, die aber dann gleich mit dem Hinweis vertröstet wurde, dass ich eben keine Journalistenausbildung besitze und meine Interneterfahrung auch noch begrenzt ist. Und für einen Deutsch- und Englischlehrer gehört das Kürzel nun mal nicht zum standardmäßig verwendeten Repertoire; es würde auch bei Schulleitung, Eltern und Schülern nicht gut angekommen sein, wenn ich an den Rand einer Schülerklausur geschrieben hätte: „too long, didn’t read“. Und auch als klinischer Psychologe könnte man gleich einpacken, wenn man Klientenschreiben oder Gutachten mit diesem Kürzel abhaken würde. Nun gut, ich hatte wieder was gelernt…

Ich schrieb dann (noch immer hatte es außer „tl,dr“ und dem „Like“ keine Reaktion auf meinen Text gegeben): „Selber Schuld. Wäre vielleicht lohnend gewesen…“ Und siehe da, plötzlich kam der freundliche Hinweis, sogar in Langform: „Was ich überflogen hab, fand ich auch recht interessant!“ Ich wollte erwidern: „…aber offenbar nicht interessant genug, um den Text zu Ende zu lesen“, verkniff es mir aber.

Schon seit längerer Zeit hatte ich das vage Gefühl, dass längere Texte mit komplexer Argumentationsstruktur in Internetforen nicht gut ankommen. Nun hatte ich es Schwarz auf Weiß und mir wurde bewusst, wie typisch dieses „too long, didn’t read“ für unsere Diskussionskultur im Internet war: Lange Texte, differenzierte Texte, die über einen BILDzeitungsartigen Aufmacher hinausgehen, werden schlicht nicht mehr gelesen.

Nun mag das durchaus ein Schutzmechanismus der Überforderten sein. Durch die Demokratisierung des Autorenmarktes, die das Internet gebracht hat, werden wir täglich mit Texten überschwemmt und, zugegeben, längst nicht alles, was veröffentlicht wird, ist von auch nur annähernd lohnenswerter Qualität. Dennoch bleibt bei allem psychologischen Verständnis für die Leseverweigerung ein deutlich unangenehmes Gefühl. Warum schreiben wir überhaupt, wenn die Texte ohnehin niemand liest? Ist nicht der Gewinn, den das Internet als demokratisierte Autorenbörse darstellt, eigentlich ein Verlust an Konsumentenkultur? Schnüffeln wir nicht nur noch oberflächlich über das megabreite Angebot von Fast-Food-Schreiberei, ohne noch wirklich zu lesen, ohne uns wirklich mit Meinungen, Argumentation auseinander zu setzen, erst recht ohne zu denken und nachzudenken? Es wäre schlimm, wenn die Twitterkultur tatsächlich das ersetzen würde, was einmal Lesekultur und Gesprächskultur war. Charakteristisch für diese Kultur war die Wertschätzung, die dem guten Buch und dem guten Gesprächspartner entgegengebracht wurde. Geht uns diese Wertschätzung, die oftmals begeistert war, an Liebe grenzte, verloren? Es wäre ein großer Verlust, wenn es so wäre, ein sehr wesentlicher, schmerzlicher Verlust.

Ich schaltete dann gestern den Computer frustriert aus und ging mit Hannah Arendts „Vita activa“ hinaus in den Garten um im Bambuswäldchen zu lesen, im alten, wunderschönen Sinne, was bedeutet: Sich zu öffnen, einzulassen. Sich zu begegnen.

Terrorattentäter – Psychisch krank oder „schrecklich normal“?

Terrorattentäter – Psychisch krank oder „schrecklich normal“?

Das Terrorattentat von Charleston (South Carolina), bei dem neun Afroamerikaner aus offenbar rassistischen Gründen während einer Bibelstunde in einer Kirche erschossen wurden, hat in amerikanischen Medien eine ganze Reihe von Diskussionen ausgelöst: Natürlich wird erneut über den Dauerbrenner, eine Verschärfung von Waffengesetzen gestritten. Dann wird die alte Südstaatenflagge kritisch auf ihren Symbolgehalt im Hinblick auf Rassismus und rechtsextreme Gewalt hin befragt. Schließlich wird heftig diskutiert, ob es sich bei dem Anschlag überhaupt um Terror mit politisch motiviertem Hintergrund gehandelt hat. Aus europäischer Sicht vermag keine dieser Debatten wirklich vom Hocker zu reißen – zu offensichtlich erscheinen die Antworten.

Eine Diskussion aber, im Vergleich zu den anderen eher am Rande geführt, erscheint durchaus spannend, die Frage nämlich, ob das Label „psychisch krank“ bei Terrorattentätern dieser Art den Tätern nicht zu leichtfertig aufgeklebt wird, mitunter in der offensichtlichen Absicht, damit tiefergehenden gesellschaftlichen Debatten, etwa denen über Terrorgefahr, Rassismus und Verschärfung der Waffengesetze von vornherein aus dem Weg zu gehen.

Sind Terrorattentäter wie der junge Weiße aus Charleston offensichtlich psychisch krank oder werden sie allzu leichtfertig von Medien und Öffentlichkeit krankgeschrieben? Es geht bei der Frage nicht um die juristische Bewertung der Schuldfähigkeit des Todesschützen zum Tatzeitpunkt, auch nicht wirklich darum, ob beim Täter zuvor eine psychiatrische Diagnose nach DSM 5 oder ICD10, den psychiatrischen Klassifikationssystemen für psychische Erkrankungen und Störungen, festgestellt worden ist, etwa die Diagnose einer depressiven Erkrankung, einer Angststörung oder einer Persönlichkeitsstörung wie Antisoziales Verhalten. Es geht bei der Frage allein um die öffentliche Wahrnehmung des Täters und seiner Tat, darum nämlich, ob man die Tat einem psychisch Kranken, einem „Verrückten“ zuschreibt, oder einem Normalen, einem „schrecklich Normalen“ und welche gesellschaftlichen Konsequenzen man dann aus diesem Befund ziehen will.

Den Begriff des „schrecklich Normalen“ verwendet der Theologe und Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Köln Manfred Lütz. Lütz sagt in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Irre – wir behandeln die Falschen“, dass Diktatoren wie Hitler und Stalin keineswegs psychisch krank gewesen seien, sondern völlig normal, „schrecklich normal“. Die Gesellschaft müsse deshalb nicht vor den häufig völlig harmlosen psychisch Kranken geschützt werden, sondern im Gegenteil vor den Normalen, die uns tagtäglich bedrohen.

Diese Auffassung von der klaren Schwarz-Weiß-Abgrenzung von „Gesund“ und „Krank“ ist in Psychiatrie und klinischer Psychologie durchaus umstritten. Viele Autoren vertreten eher die Vorstellung eines Kontinuums, also einer breiten Palette von Grautönen, die ein sehr weites Feld von sehr geringfügigen bis sehr weitreichenden psychischen Störungen und Belastungen beschreiben. Nach diesem Verständnis ist potenziell jeder Mensch irgendwie psychisch belastet – es kommt also nicht auf ein „ob“, sondern allein auf Ausmaß und Ausprägung von psychischen Störungen an. Eine psychosomatische Rehaklinik, die vorzugsweise Patienten mit „Burnout“, der Erschöpfungsdepression, behandelt, verlässt kein Patient ohne eine Diagnose nach DSM oder ICD, häufig sind kombinierte Diagnosen einer depressiven Erkrankung – oder einer Angststörung – mit einer oder mehreren Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen. Diese mit schwerwiegend klingenden Diagnosen ausgestatteten Menschen sind in aller Regel völlig „normal“ wirkende Zeitgenossen. Gewalttäter oder gar Attentäter befinden sich gewöhnlich nicht darunter. Wenn man diese völlig „normalen“ Kranken vor Augen hat und hört, dass Hitler und Stalin völlig „normal“, also keinesfalls krank gewesen sein sollen, oder der Attentäter aus South-Carolina, der ihm völlig unbekannte betende Menschen in einer Kirche erschießt, um „ein Zeichen zu setzen“, nicht „krank“, nicht einmal „gestört“ gewesen sein soll, reibt man sich mehr als verwundert die Augen. Keine Psychopathie? Nicht einmal eine antisoziale Persönlichkeitsstörung?

Es gibt heute viele Psychiater und Klinische Psychologen, die völlig zu Recht fordern, mit Diagnosen überaus sparsam umzugehen, um Menschen nicht unnötigerweise zu pathologisieren. Eine freizügig liberalistische Gesellschaft ist heute zudem viel eher bereit, menschliches Verhalten zu tolerieren als früher. Vieles, was früher als jenseits der Norm betrachtet wurde, wird heute völlig zu Recht akzeptiert und toleriert. Im Allgemeinen rechtfertigen heute nur noch zwei Bedingungen die Feststellung einer Erkrankung oder Störung: Wenn erstens erheblicher Leidensdruck besteht, und/oder wenn zweitens ein erhebliches Risiko der Eigen- oder Fremdgefährdung besteht.

Dieses „Risiko der Fremdgefährdung“ war bei Hitler und Stalin ganz ohne Zweifel ebenso gegeben, wie beim Attentäter von Charleston. Wenn die Öffentlichkeit vor solchen Menschen ganz offensichtlich geschützt werden muss – und nur ein konsequenter Schutz der Öffentlichkeit kann, ganz ungeachtet des Vorliegens einer DSM- oder ICD-Diagnose die sinnvolle Konsequenz sein, kommt man, denke ich, um eine pathologisierende Bewertung eines solchen Täters nicht herum. Dem gesunden Menschenverstand, unserem Bauchgefühl widerstrebt es, solche Taten als „völlig normal“ durchzuwinken. Doch dabei ist es letztlich völlig unerheblich, ob man solche Täter als „krank“, „gestört“ oder „schrecklich normal“ beurteilt. Darauf, die Menschen vor solchen Tätern und den Entwicklungen, die zur Vollendung der Tat führen, zu schützen, - und zwar wirkungsvoll und konsequent – darauf allein kommt es an.