Wenn Denken Angst macht
Die entwicklungsgeschichtlich jüngste Form der Angstreaktion sind Ergebnisse kognitiv-rationaler Analysen. Was uns ängstigt, sind etwa Zahlenwerte, die die Größe des Flüchtlingszustroms bemessen oder das Verhältnis von Migranten zur einheimischen Bevölkerung. Ebenso können geschätzte Folgekosten der Migration oder erwartete Probleme der Integration angstauslösend wirken. Die Reaktion auf kognitive Vorstellungen ist immer emotional: Ein Gefühl macht sich breit, eine Art innere Stimme, die uns sagt: Wir schaffen das nicht, die Zahlen sind nicht zu bewältigen, die Kosten werden zu hoch sein oder Integrationsprobleme wie zunehmende Gewalt in diesem Segment nicht beherrschbar. Anders als bei den anderen Formen der Angst sind diese Reaktionen leicht veränderbar: Günstige Erfahrungswerte lassen uns zu einer veränderten Wahrnehmung gelangen und nehmen uns dann die Angst. Umgekehrt sind wir aber geneigt, ständig Bestätigungen unserer negativen Einschätzungen zu suchen (self-fulfilling-prophecies). Negative Erwartungshaltungen können uns beratungsresistent machen.
Angst als Lebensgefühl
Generalisierte Angst gründet immer in einem negativen Lebensgefühl und steht in enger Beziehung zu Belastungsdepressionen („Burnout“). Entscheidend ist dabei die Wahrnehmung eigener Hilflosigkeit und von Kontrollverlust, ein larmoyantes weinerliches Lebensgefühl und das Bewusstsein, ein Opfer der Umstände zu sein. Dieses Lebensgefühl steht in deutlichem Zusammenhang zum allgemeinen Zeitgeist und zur soziokulturellen Lebenslage. „German Angst“ beschreibt die starke Gesellschaftsgebundenheit dieses Lebensgefühls. Bei der Flüchtlingsangst werden Migranten als unmittelbare Bedrohung der eigenen Lebensverhältnisse, des eigenen Wohlstands und der eigenen Sicherheit wahrgenommen. Menschen erleben diese Bedrohung als von der politischen Lebenswelt vorgegeben und fühlen sich ihr hilflos ausgeliefert und ohne Möglichkeit einer Steuerung und Einflussnahme. Die Wahrnehmung grenzt mitunter ans Paranoide: Ein „Verschwörungskartell“ aus Politik und Medien („Lügenpresse“) bedroht mit ihrer Politik die eigenen Lebensinteressen. Die Schärfe dieser Wahrnehmung steht in unmittelbarem Zusammenhang zur eigenen sozioökonomischen Lebenslage: Je prekärer die eigene Situation, umso schärfer die (durchaus realistisch) eingeschätzte Konkurrenz durch Flüchtlinge und umso geringer die sich selbst zugeschriebene Kontroll- und Steuerungskompetenz. Möglichkeiten der Korrektur und Gegensteuerung sind begrenzt. Der Politik bleibt nur, der wahrgenommenen Konkurrenzsituation durch politische Maßnahmen entgegenzuwirken. Wahrnehmungsveränderungen durch Förderung von Resilienzfaktoren und Schaffung von Bewältigungskompetenz sind möglich, aber sehr zeitaufwändig.
Die Urangst vor dem Fremden
Angstgenerierende Urinstinkte sind tief in unserem evolutionären Erbe verwurzelt. Wir verfügen über potenziell angstauslösende angeborene Schemata. Die bekanntesten Beispiele sind etwa die Schlangen- und Spinnenphobie. Jeder Mensch verfügt über diese angeborenen Schemata – aber nicht jeder Mensch hat Angst vor Schlangen und Spinnen. Entscheidend sind auslösende Erfahrungen in der Vergangenheit, oft frühkindliche Erlebnisse. Negativerfahrungen legen den angeborenen Schalter um – und es kommt zur objektbezogenen Angst, der Phobie. Es gibt angeborene, potenziell angstauslösende Schemata, die Flüchtlinge betreffen. Der Fremde an sich ist ein solcher Topos, insbesondere der männliche Fremde, der die eigenen Frauen bedroht. Besonders bedrohlich wirkt dieser Auslöser, wenn er in einer Gruppe oder gar in großer Zahl auftritt. Wenngleich die Schemata angeboren sind, werden sie durch Lebenserfahrung überformt. Hier ist der persönliche Kontakt zum einzelnen Fremden von entscheidender Bedeutung. Wer Fremde kennenlernt (und schon über positive Erfahrungen verfügt) hat weniger Angst. Gegensteuern kann man generell wie in der Verhaltenstherapie bei Spinnenphobie: Indem man allmähliche angstabbauende Begegnungen schafft. In der Flüchtlingsdebatte könnte das bedeuten: Weg von Massenunterkünften, hin zu dezentraler, bevölkerungsnaher Unterbringung, die Wahrnehmung von Bedrohlichkeit reduziert und Möglichkeiten des Kennenlernens schafft. Zu überdenken ist in dieser Hinsicht auch die Politik des Familiennachzugs, da gut integrierte Männer mit Frauen und Kindern als weniger bedrohlich wahrgenommen werden als reine Männergruppen.
Fazit
Angst ist eine Emotion - also entzieht sie sich jedes rationalen Zugangs. Sämtliche Angstreaktionen wurzeln in unserer menschlichen Natur und sind somit zutiefst menschlich. Wir müssen diese Ängste im politischen Raum ernst nehmen, und zwar aus der Mitte der Gesellschaft heraus ernst nehmen. Wir dürfen diese menschlichen und natürlichen Ängste nicht dem rechten Rand zuschreiben, weil wir so zur Ausgrenzung von Menschen und zur Desintegration von Gesellschaft beitragen. Wir verlieren Menschen für die politische Mitte, wenn wir ihnen das Gefühl geben, dass sie ihre Ängste nur noch bei AfD und Pegida ausdrücken können und scheinbar nur noch dort verstanden werden.
Nachvollziehbarkeit von Ängsten ist für mich die hohe Kunst des Psychotherapeuten, aber keine Legitimationsgrundlage für die Angst. Eine subjektive emotionale Wahrnehmung schafft eine subjektive Wirklichkeit, d.h. sie ist auch dann real, wenn sie niemand sonst nachvollziehen kann. Wir dürfen Menschen nicht unter Legitimationsdruck bringen. Aus Sicht des Therapeuten sind Ängste häufig unbegründet - ich darf sie aber dennoch nicht delegitimieren, etwa mit der Begründung, die Person habe sich nicht ausreichend mit Realität auseinandergesetzt oder sei nicht bemüht genug, die Angst zu bewältigen. Eine Angst nicht ernstzunehmen, weil die Person sich gegen "vernünftige Einsichten immunisiert " habe, gründet auf einer Unterstellung und zudem in subjektiver Arroganz. Ich kann einem anderen die Angst nicht durch Argumente ausreden - damit erreiche ich nur Blockade. Ich kann ihm bestenfalls bei der Bewältigung der Angst helfen.
Es gibt keine nichtgerechtfertigte Angst. Es gibt lebensbehindernde Ängste, die Leidensdruck verursachen und deshalb therapiert gehören. Wer Angst hat, kann damit nicht recht oder unrecht haben. Emotion ist eine Qualität jenseits von Logik und Werturteil. Worum es uns allen gehen sollte, ist die Bewältigung von Angst.