Montag, 4. Dezember 2017

Die wertvollsten Momente im Leben


Die wertvollsten Momente im Leben

Da war so ein Septemberspätnachmittag im Südburgenland, mäßig warm, leicht bewölkt. Ein kleiner Buschenschank im Weinberg, rauhe, hölzerne Tische im Freien unter einem mächtigen Walnussbaum. Die Wirtin hat uns einladend hinaufgewunken, meine Frau und mich. Nur sehr wenige Urlauber kommen unter der Woche an den kleinen Holzhäuschen im Weinberg vorbei. Es ist völlig ruhig, weltvergessen. Die Wirtin ist sehr freundlich, hat einen reizenden südburgenländischen Akzent. Wir bestellen einen Uhudler, dazu Fladenbrot und Schmalz. Der Uhudler ist ein Cuvee aus roten Hybridsorten, Direktträger. Er schmeckt säurebetont, das Bukett ist äußerst intensiv und erinnert an Johannisbeeren oder schwarze Ribiseln, wie die Österreicher sagen.

Es ist ein einzigartiger Wein. Es sind einzigartige Momente. Wir genießen, sind uns nah, fühlen uns geborgen, empfinden intensive unverwechselbare Momente.

Dieser Wein schmeckt nie gleich. Es kommt auf die Reben an, auf den Boden und die Kunst der Winzerin. Aber es kommt auch und vor allem auf die Situation an, in der man ihn trinkt. An jenem Spätnachmittag kam es auf die Wolken an. Auf den Geruch in den Weinbergen. Auf den Walnussbaum und die rauhen Holztische. Auf die Freundlichkeit der Wirtin und auf die offene, gelöste Stimmung meiner Frau. Auf das Blümchenkleid, das sie trug und auf ihren Geruch. Auf ihr Lachen und den Wind in ihren Haaren. Alles zusammen ergab einen unverwechselbaren Geschmack des Uhudlers. Und unverwechselbare, einzigartige Momente.

Das Wertvolle im Leben ist das Einzigartige. Wertlos hingegen ist das Normale, das Typische, das Austauschbare. In unserer Massengesellschaft herrscht aber überall das Normale, das Typische und das Austauschbare vor. Die Massengesellschaft ist eine Gesellschaft des Wertlosen. Die wertvollen, einzigartigen Momente sind sehr selten geworden. Wir finden sie nur noch am Rande des Lebens, in der Provinz, an der Peripherie. Wie in jenem Buschenschank im Weinberg, im Grenzland zu Ungarn, wohin sich selten ein Urlauber verirrt.

Der Einmaligkeit des Erlebens entspricht die Einzigartigkeit des Menschen. Wir sind dann vollkommen menschlich, wenn wir einzigartig sind, individuell und unverwechselbar. Je unverwechselbarer wir sind, umso weniger entsprechen wir der Norm. Unsere Individualität müssen wir uns erkaufen um den Preis der Normalität und der Idealität. Je weniger wir der Norm entsprechen, umso mehr aber sind wir Persönlichkeit.

Persönlichkeit ist immer gerichtet auf Gemeinschaft. Erst in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft gewinnt die individuelle Persönlichkeit Identität. Umgekehrt gewinnt auch die Gemeinschaft ihren Charakter und ihre Identität erst aus dem Zusammenspiel freier, individueller Persönlichkeiten. Individualität und Gemeinschaft bedingen einander.

Das Gegenstück zur Gemeinschaft freier Menschen ist die Massengesellschaft. Die Gesellschaft der Masse kennt nur Nutzen und Funktionalität. Sie kennt keinen Sinn und keinen Wert. Ebenso wenig respektiert sie menschliche Freiheit und menschliche Würde. Die Massengesellschaft vergöttert den Typus, das Durchschnittliche und das Normale. Individualität und menschliche Freiheit müssen in der Massengesellschaft untergehen. Ebenso die menschliche Würde.

Menschen flüchten sich in die Masse, weil sie in der Masse der Verantwortlichkeit entgehen können. In der Masse sind alle gleich. Die Persönlichkeit löst sich auf im Kollektiv. Kollektive Nichtunterscheidbarkeit bedeutet kollektive Verantwortung. Kollektive Verantwortung bedeutet aber kollektive Verantwortungslosigkeit, denn am Ende ist jeder für alles und niemand für irgendetwas verantwortlich. Die Gesellschaft der Masse wird zum Konglomerat verantwortungsloser entpersönlichter Wesen.

Freiheit bedeutet die Loslösung von der Gebundenheit an den Typus. Den Mut zur Persönlichkeit jenseits der Norm. Die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung übernehmen zu wollen. Freiheit erwirkt das menschliche Ideal der Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Sie macht uns zur Persönlichkeit und sowohl zum wertgebundenen wie zum wertvollen Wesen.

Finden wir doch den Mut zur Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, zur Freiheit und zur Verantwortung. Gehen wir hinaus in die abgelegenen Weinberge des Lebens und suchen wir doch die verborgenen Buschenschänken. Hier begegnet uns der unverwechselbar schmeckende Wein, hier treffen wir mit einigem Glück auf die Momente voller Wert und dem Bewusstsein menschlicher Würde.


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Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden. (Sokrates)