Donnerstag, 10. September 2015
Der sich selbstentwickelnde Charaktertypus
Der Charaktertypus, der uns Liberalen vorschwebt, ist der sich selbstentwickelnde Charakter, der einem Dirigenten, einem schaffenden Künstler gleich, sich ständig neu formt, entwirft und entfaltet. Dieser Charaktertypus vereint in sich die Offenheit und Flexibilität von Riesmans außengeleitetem Charakter mit der Wertorientierung und Verwurzelung des innengeleiteten Charakters. Der freiheitliche Mensch ist undogmatisch, offen für Neues und veränderbar. Aber ebenso weiß er stets, wer er ist, woher er kommt und wohin er will. Er vermeidet Beliebigkeit, verfügt über Lebenssinn, Ziel und Richtung. Wenn er über Sinn verfügt, hinterfragt er sich aber ständig und ist auf der Suche nach neuem Sinn und neuer Wahrheit. Wenn er ein Ziel verfolgt, so lässt er sich gerne vom Weg abbringen, denn der Weg zu sich selbst ist sein eigentliches Ziel. Wenn er in eine Richtung aufbricht, so rennt er nicht blindlings geradeaus, sondern schaut sich ständig um, verändert seine Richtung und kehrt vielleicht um, wenn er es für richtig befindet. Er ist ein kritischer Individualist. Seine bodenständige Verwurzeltheit und Wertorientierung ermöglicht ihm die weltoffene Exploration und experimentierfreudige Neugier und Suche nach sich selbst und seinen Möglichkeiten.
Samstag, 5. September 2015
Nach Finsterdeutschland Brücken bauen!
Der Bundespräsident
hat im Zusammenhang mit der Flüchtlingskatastrophe von
„Dunkeldeutschland“ gesprochen und dafür heftige Prügel
bezogen, zum größten Teil, aber nicht nur, aus eben jenem
gesellschaftlichen Segment, das er mit dem Begriff umschreiben
wollte. Er habe gespalten, warf man ihm vor, die Republik in „hell“
und „dunkel“ geschieden, in „gut“ und „böse“. Das stehe
einem Staatsoberhaupt nicht zu. Seine Aufgabe sei, das Volk zu
versöhnen, nicht es zu spalten. Die Aufgabe des Bundespräsidenten
ist aber auch, gesellschaftliche Entwicklungen zu benennen und sie im
Sinne von Freiheit und Menschenwürde zu verändern. Und genau das
hat Joachim Gauck getan.
Es gibt
Dunkeldeutschland, daran kann kein Zweifel bestehen. Ich selbst habe
es – etwas pathetischer - „Finsterdeutschland“ genannt und es
einem „Lichtdeutschland“ gegenübergestellt. In
Finsterdeutschland herrschen Zynismus und Menschenverachtung,
Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit. Im Herz der Finsternis herrschen
rohe Gewalt bis hin zum versuchten Mord. In Lichtdeutschland gibt es
warme Empathie und bewunderungswürdiges soziales Engagement, Hilfe
für Menschen in Not, humanitäre Initiative. Niemand, der in unseren
Tagen unser Land bereist, wird daran zweifeln, dass es
Lichtdeutschland und Finsterdeutschland gibt. Der Kontrast zwischen
beiden ist zu offensichtlich.
Finsterdeutschland
ist nicht nur „rechts“. Die politische Rechte versucht zwar, die
Debatte zu dominieren und das Spektrum zu infiltrieren. Aber viele,
die meisten der Wutbürger und Angstbürger sind ideologisch nicht
festgelegt. Es gibt sogar bedeutende Strömungen der
politischen Linken in Finsterdeutschland. Die Begriffe „rechts“
und „links“ sind ohnehin zunehmend fragwürdig und in vielen
Debatten nicht hilfreich. Für mich ist die maßgebliche
Unterscheidung "freiheitlich" versus "autoritär"
bzw. "etatistisch". Und da verorten sich "Rechte"
und "Linke" regelmäßig vereint im antifreiheitlichen
Lager. Doch dies nur am Rande. Finsterdeutschland definiert sich
durch die Verortung von Empathie und charakterlicher Größe oder ihr
Fehlen. Nicht durch die politische Landkarte.
Längst nicht jeder
Bürger der Republik lässt sich Licht- und Finsterdeutschand
eindeutig zuordnen. Zwischen beidem liegt eine Grauzone. Deutschland
im Dämmerungszustand gewissermaßen. Dabei kann man angesichts der
Bilder des Flüchtlingselends nicht neutral bleiben. Man kann nur
emotional und empathisch reagieren – oder abgestumpft. Viele
Menschen haben sich sehr schwer getan mit der Veröffentlichung des Fotos
des kleinen Jungen, angeschwemmt am Strand in der Türkei,
Strandgut unserer fürchterlichen Zeit. Sehr viele Menschen
kritisierten die Veröffentlichung aus sehr nachvollziehbaren und
noblen Motiven heraus, sahen die Würde des individuellen Menschen
verletzt oder konnten dieses Bild emotional einfach nicht bewältigen.
Ich selbst habe das Foto des Jungen auf meiner Seite geteilt, mich
aber sehr schwer damit getan. Ich hatte das Gefühl, dass man die
Intimität verletzt, wenn man diesen individuellen Menschen zeigt.
Andererseits hatte ich den Eindruck, dass man den Menschen als Opfer
zeigen muss, um anzuklagen, um Veränderung zu bewirken. Das geht
vielleicht nur mit stark emotionalisierenden Fotos. Und Veränderung
zu bewirken, sind wir dem kleinen Jungen schuldig, fand ich.
Viele Menschen waren
aber aus völlig anderen Motiven gegen dieses Foto. Jemand schrieb
empört, überall sehe man Fotos von toten Kindern, abgetrennten
Köpfen, Frauenleichen mit abgeschnittenen Brüsten. Er finde
das fürchterlich, wolle das nicht sehen. Nun, vielleicht müssen wir
Menschen mit sensiblen Gemütern auch diese Art von Selbstschutz
zugestehen. Grundsätzlich finde ich aber, als Erwachsene müssen wir
uns mit der Realität auseinandersetzen und sie verarbeiten. Da sind
wir angesichts des Elends in der Welt verpflichtet, uns zu stellen
und, nach Möglichkeit, Veränderung zu bewirken. Es geht darum, muss
darum gehen, Not zu mildern und Leben zu retten. Nicht um unsere
Befindlichkeiten. Und die Aufgabe der Medien besteht darin, uns die
Wirklichkeit erfahrbar zu machen, Realitäten aufzuarbeiten. Nicht,
uns in paternalistischer Absicht vor der Wirklichkeit zu schützen
und damit letztlich zu infantilisieren.
Und dann gibt es
jene – und hier bewegen wir uns schon mitten in Finsterdeutschland
– die in der Veröffentlichung des Fotos Manipulation und
Verhaltenssteuerung durch unsere „gutmenschlich-gleichgeschalteten
Medien“ sahen. Es gehe nicht um Flüchtlinge, schrieb etwa
Gerd Held in einer menschenverachtend-zynischen Kolumne. Mit diesem
Begriff werde eine Notlage vorgetäuscht, die es im eigentlichen
Wortsinn nicht gebe. Held entwarf den Mythos einer normativ
verpflichtenden Rettungskultur, die von Griechenland und den Euro
über das Klima bis zu den Kriegsflüchtlingen reiche, und sprach
von "Nötigung der Semantik" und einer "Diktatur des
Rettens", einer moralisierenden Meinungsmacht, die politisches
Handeln ersetze. Damit gestaltet er Feindbilder und entwickelt ein
gefährliches Schisma, indem er rationales Handeln und
emotional-empathische Reaktion zu trennen versucht. „Rettungskultur“,
„Nötigung der Semantik“, „Manipulation durch Emotion“.
Bilder des kleinen Jungen würden genutzt, so Finsterdeutschlands
Zyniker, um – in gutmenschlicher Absicht – unser Land mit
Flüchtlingen „fluten“ zu können.
Apropos Gutmensch:
ein Lieblingsbegriff in Finsterdeutschland. „Gutmenschen“ sind
die Bürger Lichtdeutschlands, die sich um Flüchtlinge kümmern,
ihnen helfen, in unser Land zu kommen. Und damit die Interessen
Deutschlands verraten – so die weit verbreitete Auffassung in
diesen Kreisen. Ich bin, um es klar zu sagen, niemand, der den
Begriff „Gutmensch“ kategorisch ablehnt. „Gutmensch“ ist für
mich der politisch Naive, der in wohlmeinender Absicht politisch
handelt, ohne die langfristigen Folgen dieser Handlungen zu bedenken.
Er handelt im Sinne Max Webers ausschließlich gesinnungsethisch,
nicht verantwortungsethisch. Es gibt diesen Typus des politischen
Akteurs und der Begriff hat aus meiner Sicht durchaus seine
Berechtigung.
Die „besorgten
Bürger“ Finsterdeutschlands verwechseln aber schlicht
„Gutmenschen“ mit „guten Menschen“. Es gibt kein naives, rein
gesinnungsethisch motiviertes Handeln in der Flüchtlingspolitik, das
die Verantwortungsethik ausblendet. Es gibt hier nur Menschlichkeit
versus Unmenschlichkeit, nur Empathie versus Abgestumpftheit, nur
Solidarität versus Egoismus.
Nicht der
Bundespräsident hat unser Land mit seiner Begrifflichkeit gespalten,
denn es gab dieses Schisma in der öffentlichen Meinung und
Darstellung schon vorher. Der Graben ist bittere Realität und er
weitet sich. Wie lässt sich ein weiteres Auseinanderdriften unserer
Bevölkerung verhindern, wie lassen sich Brücken bauen? Die
Vorstellung, eine Brücke ins Herz der Finsternis* bauen zu können,
ist wohl naiv. Zu groß scheinen dort die selbstverliebte Ignoranz,
die Menschenverachtung und der Hass. Aber die weiten Randbereiche
Finsterdeutschlands, die Bereiche der Dämmerung, sie scheinen
erreichbar durch eine effektive Flüchtlingspolitik und eine
wirkungsvolle politische Kommunikation, die es unternimmt, Ängste zu
bewältigen. Dass es Ängste gibt, ist angesichts der großen
Herausforderung, vor der Deutschland und Europa stehen,
unvermeidlich. Deutschland und Europa werden sich durch die
Flüchtlingsströme verändern, müssen sich verändern. Es kann nur
darum gehen, im Interesse der Menschen in unserem Land, aber vor
allem im Interesse der Menschen, die zu uns kommen, diese Ängste
durch kluges politisches Handeln und bürgerschaftliches Engagement
gemeinsam zu bewältigen.
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*Die Metapher "Herz der Finsternis" ist gewählt in Anlehnung an die Erzählung "Heart of Darkness" von Joseph Conrad, 1899.
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*Die Metapher "Herz der Finsternis" ist gewählt in Anlehnung an die Erzählung "Heart of Darkness" von Joseph Conrad, 1899.
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